Serie: Kapitalismus in der Krise:Amerika - und doch so nah

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Die Wirtschaftssysteme auf beiden Seiten des Atlantiks setzen unterschiedliche Akzente - sie sind sich aber ähnlicher, als vielfach behauptet.

Marc Beise

Finanzkrise, Wirtschaftskrise? Sind die Amis dran schuld, ist doch klar.

Die amerikanische Variante des Kapitalismus rutscht eher in die Krise, kommt aber vermutlich auch schneller wieder heraus. (Foto: Foto: AFP)

Die meisten Dinge sind auf den ersten Blick sehr einfach. Die kleine Anleitung in Sachen Krise für den Stammtisch zum Jahreswechsel würde dann so lauten: Der Turbo- oder Casino-Kapitalismus, wie er bekanntlich in Amerika zu Hause ist, hat die Welt an den Rand des Abgrunds gebracht, war ja auch nicht anders zu erwarten. Immer nur Money, money, money, das kann eben nicht funktionieren, und es funktioniert auch nicht. Soweit so gut.

Nicht gut allerdings, dass die Folgen dieser Katastrophe wir Europäer, ach was: wir Deutsche zu tragen haben. Erst stürzen die Freunde jenseits des Atlantiks die Welt in die größte Krise seit Jahrzehnten, und dann sollen wir auch noch die Rettung bezahlen. Und das, obwohl doch wir das bessere Wirtschaftssystem haben: die eben soziale und nicht nackte Marktwirtschaft.

Fehlende Haftungsregeln und mangelhafte Kapitalmarktkontrolle

Je mehr und je schneller wir uns also von den USA abkoppeln, desto besser. - Ein bisschen weniger platt formuliert, findet sich dieses Denken in vielen Köpfen und in noch mehr Politiker-Manuskripten. Wenn die Welt nur so einfach wäre...

Auf den zweiten Blick nimmt sich die Sache ohnehin komplizierter aus. Weder finden sich in Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika zwei wirklich unterschiedliche Wirtschaftssysteme, noch sind die Europäer derart einseitig ökonomische Geiseln der Amerikaner, wie mitunter behauptet wird.

Richtig ist, dass die Finanzkrise ihren Ausgang in den USA genommen hat: von der notorischen Überschuldung des Landes auf Kosten der restlichen Welt über die faulen Kredite an unvermögende Häuslebauer bis zu den wahnwitzigen Verbriefungen von Risiken, begünstigt durch fehlende Haftungsregeln und mangelhafte Kapitalmarktkontrolle.

Falsch wäre es jedoch, die Krise im Wesentlichen auf idealtypisch unterschiedliche Wirtschaftssysteme zurückzuführen.

Zwar werden gerne gegensätzliche Begriffspaare gebildet: soziale Marktwirtschaft versus Turbokapitalismus oder rheinischer Kapitalismus versus anglo-amerikanischer Kapitalismus. Aber sind die Systeme wirklich so unterschiedlich? Kapitalismus herrscht hier wie dort, insofern man darunter eine Wirtschaftsordnung versteht, die auf Privateigentum auch an Produktionsmitteln und auf dezentraler Planung beruht, unterlegt mit einer "kapitalistischen Gesinnung" aus Erwerbsstreben, Rationalität und Individualismus.

Wettbewerb muss gewährleistet sein

Eine eindeutige Definition für den Kapitalismus gibt es nicht, zumal der Begriff seinerzeit ausgerechnet von Kritikern des Systems, Karl Marx und Friedrich Engels, in die deutsche Sprache eingeführt worden ist.

Der Kapitalismus als Marktwirtschaft setzt darauf, dass die Lenkung der wirtschaftlichen Prozesse über den Preis koordiniert wird: Es regieren Angebot und Nachfrage. Das weiß man seit den ökonomischen Klassikern, deren Erkenntnisse sich zu Zeiten der Industrialisierung und des aufstrebenden Bürgertums in deutschen Landen ebenso verbreiteten wie in den Gründerstaaten in Amerika.

Wenn dieser Markt funktionieren soll, muss Wettbewerb gewährleistet sein - auch dies ist diesseits des Atlantiks nicht anders als jenseits. Das amerikanische Kartellrecht ist mindestens so scharf wie das deutsche. Die beispielgebende Zerschlagung großer Monopolisten (Öl, Telefon) fand Anfang des 20. Jahrhunderts nicht in Deutschland, sondern in den USA statt, während Deutschland die regelgeleitete Marktwirtschaft erst nach 1945 mühsam lernte.

Dass die USA die lange Zeit beherrschende Weltwirtschaftsmacht waren und in einiger Hinsicht immer noch sind, hat vor allem mit der schieren Größe des Landes zu tun, den Chancen des einheitlichen Wirtschaftsraums mit einheitlicher, gar weltweit beachteter Währung und Sprache - und weniger mit den jeweiligen Wirtschaftssystemen.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie sich das deutsche und das amerikanische Wirtschaftssystem ergänzen.

Hier Ludwig Erhard, der Vater der sozialen Marktwirtschaft, dort Milton Friedman, der Guru der Marktradikalen - das wäre zu einfach. Der Wohlfahrts- und Verbändestaat, wie er schon bald nach Gründung der Bundesrepublik sich formte, entwuchs rasch jener Idee, für die der Wirtschaftswunder-Minister und spätere Kanzler anfangs eingestanden war.

Erhard, schon im Jahr 1958: "Ich bin erschrocken, wie übermächtig der Ruf nach kollektiver Sicherheit im sozialen Bereich erschallte. Falls diese Sucht weiter um sich greift, schlittern wir in eine gesellschaftliche Ordnung, in der jeder die Hand in der Tasche des anderen hat ... Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein."

Unbändiger Wille, sein eigenes Glück zu machen

Umgekehrt war der bekennende Marktliberale Milton Friedman nie die personifizierte anglo-amerikanische Wirtschaftsverfassung. Dass der Nobelpreisträger mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan (im Amt von 1981 bis 1989) und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher (im Amt von 1979 bis 1990) zwei berühmte Anhänger vorweisen konnte, war die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Und hat nicht ein Präsident Franklin D. Roosevelt mit dem New Deal die Wirtschaft zeitweise klar interventionistisch gelenkt und ein Lyndon B. Johnson mit der Idee der Great Society Wahlkampf geführt, der Ankündigung umfassender Sozialreformen?

Wohl aber schrieben die Gründerväter Amerikas Pursuit of Happiness in die Unabhängigkeitserklärung und manifestierten dort "unveräußerliche Rechte" eines jeden Menschen auf "Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit". Bis zum heutigen Tag wirkt der unbändige Wille, sein eigenes Glück zu machen, in vielen Facetten in der amerikanischen Gesellschaft nach; der Staat hat entsprechend eher die Funktion einer letzten Reserve. Im von Bismarck'schen Sozialgesetzen geprägten Deutschland dagegen ist der Staat seit mehr als 100 Jahren erster Ansprechpartner.

In Deutschland schützen die Sozialsysteme vor dem Absturz. Der Kündigungsschutz sichert den Job. Der Staat sorgt für Bildung: Diese Ausprägungen haben Vor- und Nachteile: Die Ausbildung des Einzelnen (manifestiert beispielsweise im anerkannt hohen Facharbeiterniveau) hat Deutschlands Siegeszug auf den Exportmärkten begünstigt.

Dynamischer und riskanter

Der umfassende Schutz des Einzelnen aber überfordert die Volkswirtschaft insgesamt - bei den Sozialversicherungssystemen durch deren permanent drohende Unfinanzierbarkeit, am Arbeitsmarkt durch mangelnde Flexibilität. Hire and fire in den USA sind unbequem und bitter im Einzelfall, erlauben aber auch ein schnelleres Reagieren der Unternehmen auf aktuelle Herausforderungen.

Insgesamt mag man das amerikanische System dynamischer, aber auch riskanter nennen, das deutsche nachhaltiger, aber auch behäbiger. Konkretisiert am Beispiel des Finanzhandels: Dort war er lange Zeit mehr wertpapiermarktgetrieben, hier eher bankengetrieben. Entsprechend groß sind die Schäden der Krise in den USA, und vergleichsweise überschaubar bei den deutschen Universalbanken und erst recht den Öffentlich-rechtlichen.

Oder die sogenannte "Realwirtschaft": Während das eine Wirtschaften bei ganz neuen Produkten, die auf radikalen Innovationen beruhen, führend sein mag, spielt das andere seine Stärke bei der Perfektionierung bereits eingeführter Techniken aus.

Die amerikanische Variante rutscht eher in die Krise, kommt aber vermutlich auch schneller wieder heraus. Die deutsche Variante bewahrt vor manchem Exzess, lässt aber häufig auch Dynamik vermissen. Am Ende wird es ohne Kooperation beider nicht gehen. Deutschland wird 2009 seinen Weg nicht ohne die USA machen können, und umgekehrt geraten in New York und Washington Vorsichts-Prinzipien in den Blick, für die man bisher die "alte Welt" belächelt hatte.

Wer Amerika und Deutschland als zwei gegensätzliche Systeme versteht, die miteinander im Clinch liegen, verpasst die Chancen, die ausgerechnet in der Krise des Kapitalismus stecken.

© SZ vom 31.12.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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