Samstagsessay:Schwacher Weltmeister

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Deutschland ist stolz auf seinen Exportüberschuss. Warum bloß? Er zeigt zwar, dass "Made in Germany" begehrt ist. Doch der Boom hat auch eine dunkle und gefährliche Seite.

Von Catherine Hoffmann

Made in Germany ist ein fast schon sakrales Qualitätsversprechen - und eine Erfolgsgarantie für die deutsche Wirtschaft. Von Autos und Robotern über Werkzeuge und Chemikalien bis zu Besteck und Bleistiften - deutsche Produkte sind im Ausland gefragt. Mit einer cleveren Mischung aus Innovation, Design, Qualität und intensiver Markenpflege entzog sich die Industrie dem Niedergang, den andere Nationen wie Großbritannien, Frankreich und Italien erfahren haben.

Das zeigt auch die atemberaubende Rekordfahrt der Handelszahlen: Deutschland verkauft anderen Ländern deutlich mehr Waren und Dienstleistungen, als es ihnen abkauft. Der Überschuss, schätzen die Konjunkturforscher des Münchner Ifo-Instituts, dürfte in diesem Jahr 310 Milliarden Dollar erreichen. Ein neuer Weltrekord. China wird den Prognosen zufolge mit einem Leistungsbilanzüberschuss von 260 Milliarden Dollar auf Platz zwei landen. Auf Rang drei folgt Japan mit rund 170 Milliarden Dollar.

In Deutschland ist man stolz auf diese Entwicklung. Exportweltmeister! Erklärt wird der Siegeszug auf dem Weltmarkt mit der herausragenden Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Unternehmer, die angeblich bis heute dem Leitspruch des Autoingenieurs Gottlieb Daimler folgen: "Das Beste oder nichts." Alles schön und gut, aber bestenfalls zur Hälfte richtig.

Zu D-Mark-Zeiten wären die irren Überschüsse gar nicht möglich gewesen

Über die andere Hälfte wird bemerkenswert wenig geredet: Die Kehrseite des märchenhaften Exportbooms ist eine schwache Binnenwirtschaft: Deutschland spart zu viel und investiert zu wenig. Es gibt gar keinen Grund zu übermäßigem Stolz, denn das Land ist seit mehr als zehn Jahren nicht in der Lage, die Güter, die es produziert, auch selbst zu nutzen - für Investitionen und Konsum im Inland. Deutschland ist darauf angewiesen, dass sich andere Länder verschulden, um dann Güter made in Germany zu kaufen.

Ein Überschuss in der Leistungsbilanz bedeutet nicht nur, dass ein Land mehr exportiert als importiert. Er bedeutet auch, dass es mehr spart als investiert - und zwar in dem exakt gleichen Maß. Der gewaltige Leistungsbilanzüberschuss ist also keineswegs Ausdruck einer besonders starken und gesunden Volkswirtschaft. Er ist besorgniserregend, signalisiert er doch eine gefährliche Schieflage.

Das war nicht immer so. Aus dem öffentlichen Gedächtnis ist so gut wie verschwunden, dass Deutschland bis zur Einführung des Euro im Jahr 2002 eine ausgeglichene Leistungsbilanz oder sogar kleine Defizite verzeichnete. Seither klettert der Saldo immer höher. Zu D-Mark-Zeiten wäre das gar nicht möglich gewesen.

Normalerweise steigt der Wechselkurs eines Landes, das gerade besonders wirtschafts- und exportstark ist. Schließlich wollen Ausländer die Währung haben, um Waren aus diesem Land zu kaufen. Doch der Euro ist eine Gemeinschaftswährung mit einer gemeinsamen Geldpolitik, die auch für Länder wie Frankreich oder Italien gelten muss, deren Wirtschaftslage schwierig ist. Deshalb ist der Euro, gemessen in Dollar, heute nicht teurer als vor zehn Jahren. Der Wechselkurs als Anpassungsventil für die Volkswirtschaft funktioniert also nicht.

Illustration: Lisa Bucher (Foto: Lisa Bucher)

Natürlich profitiert die deutsche Exportwirtschaft nicht nur vom schwachen Euro. Ihr kommen auch die Agenda-2010-Reformen von Bundeskanzler Gerhard Schröder zugute: Der Staat sparte, die Arbeit wurde flexibler und im Vergleich zu den Nachbarn günstiger. Deutschland holte im internationalen Wettbewerb auf. Doch der Währungskurs hat dabei sehr geholfen: Deutschland könnte keinen Leistungsbilanzüberschuss von fast neun Prozent der Wirtschaftsleistung erzielen, wenn das Land noch die D-Mark hätte.

Neun Prozent - das ist nicht akzeptabel. Deutschland verstößt damit gegen eine wichtige europäische Regel, wie die EU-Kommission zu Recht kritisiert. Innerhalb der EU werden maximal sechs Prozent Überschuss toleriert, weil hohe Leistungsbilanz-Ungleichgewichte die Stabilität der Wirtschaft gefährden. Da Deutschland seit Jahren über dieser Grenze liegt, wurde die Bundesregierung bereits im März 2014 von Brüssel gerügt. Auch das US-Finanzministerium prangerte die einseitige Ausrichtung der Wirtschaft auf Exporte wiederholt als Risiko für die weltweite Finanzstabilität an, da Ländern mit hohen Überschüssen solchen gegenüberstünden, die ihre Importe mit Schulden finanzieren müssten. Ginge es nach Washington, sollte Deutschland die Löhne steigen lassen und mehr Schulden aufnehmen, um mit dem Geld das Wachstum anzufachen.

Deutschland soll nicht länger Exportweltmeister sein dürfen? Für viele Unternehmer klingt das wie Verrat an den Aufbauleistungen der Wirtschaftswundergeneration und ihrer Nachfahren. War es nicht die weltweite Begeisterung für Autos und Maschinen made in Germany, die diesem Land neues Selbstbewusstsein bescherte? Was soll so schlimm daran sein, dass Amerikaner, Chinesen oder Franzosen sich für deutsche Luxuskarossen und Roboter begeistern?

Erst einmal nichts. Exportweltmeister zu sein, ist wunderbar. Das Problem sind nicht die Exporte, sondern die aberwitzigen Leistungsbilanzüberschüsse. Sie entstehen, wenn eine Volkswirtschaft mehr produziert als sie selbst konsumiert und im Inland investiert. Aus dem Produktionsüberschuss, der im Inland nicht verbraucht wird, resultieren volkswirtschaftliche Ersparnisse. Folglich spiegeln die hohen Handelsüberschüsse der vergangenen Jahre vor allem zwei Entwicklungen wider: einen Anstieg der nationalen Ersparnis und einen Rückgang der Investitionen.

Mehr Investitionen rühren an ein deutsches Dogma: die schwarze Null

Seit der Jahrtausendwende hat sich die deutsche Sparquote (gemessen an der Wirtschaftsleistung) um ungefähr 5,5 Prozentpunkte erhöht. Es sind vor allem die privaten Haushalte, die angesichts des demografischen Wandels viel Geld zur Seite legen. Sogar der Staat spart ein wenig, trotz Flüchtlingskrise. Entscheidender aber ist, dass die Ersparnisse der Unternehmen kräftig zugenommen haben. Die Betriebe behielten ihre Gewinne zum Großteil ein, statt in Deutschland zu investieren: So sank die Investitionsquote in den vergangenen Jahren um 4,5 Prozentpunkte. Statt in Deutschland ihren Maschinenpark auf Vordermann zu bringen, legen die Unternehmen ihre Gewinne lieber im Ausland an. Offenkundig kommen deutsche Unternehmer häufig zu dem Schluss, dass sich Investitionen in Deutschland nicht lohnen. Ein beunruhigender Befund, aber nicht der einzige, der zu denken gibt.

Auch die öffentliche Hand steckt nicht genug Geld in Straßen und Schulen. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung benötigt Deutschland pro Jahr knapp 100 Milliarden Euro mehr Investitionen - staatliche, vor allem aber private. Wirtschaftspolitiker sollten sich das zu Herzen nehmen, statt sich auf die Schulter zu klopfen, dass "wir" so exportstark sind.

Der Überschuss in der Leistungsbilanz hat nämlich eine hässliche Kehrseite: ein Defizit in der Kapitalbilanz, das genauso groß ist, 310 Milliarden Dollar. Deutschland ist damit der größte Kapitalexporteur der Welt. Das kann nicht im Interesse des Landes sein. Leider wird die Kapitalbilanz in der Diskussion um die Wettbewerbsfähigkeit meist vergessen.

Ein grober Fehler, denn das viele Geld wird im Ausland oft nicht profitabel angelegt. Deutschland hat in der Vergangenheit für seine Ersparnisse Schrottpapiere aus Amerika und Griechenland erhalten. Es hat Autos und Maschinen in Lehman-Zertifikate, Subprime-Papiere und griechische Staatsanleihen getauscht. Guthaben wurden schlecht in Defizitländern angelegt oder für Unternehmenskäufe ausgegeben, die manchmal kläglich scheiterten, so wie die Fusion der Autobauer Daimler und Chrysler. Das allein ist schon ärgerlich genug. Schlimmer aber ist: Dass Deutschland die vielen Milliarden nicht sinnvoll im Inland investiert hat.

Was also kann getan werden, um eine bessere Balance zu finden? Rauf mit den Löhnen, fordern die Linken, und zwar kräftig! Dann verschlechtert sich unsere Wettbewerbsfähigkeit, und das Handelsdefizit schrumpft. Das ist nur bedingt empfehlenswert, es gibt bessere Wege. Was die Löhne angeht, so steigen sie längst, und mit ihnen die Konsumkraft, aber beides mit Maß. Das ist gut so. Wer den immensen Leistungsbilanzüberschuss schrumpfen will, braucht nicht nur mehr Konsum, er braucht vor allem mehr Investitionen im Inland, denn die sind seit schon seit Jahren zu gering.

An Vorschlägen, wie das gelingen könnte, mangelt es nicht. Berlin könnte steuerliche Anreize für Unternehmen schaffen, die in Deutschland in neue Produktionskapazitäten investieren. Vor allem Start-ups brauchen Unterstützung, damit sie Wachstum und Investitionen leichter finanzieren können und nicht ins Silicon Valley abwandern. Beides würde nicht nur dem Abbau der Exportüberschüsse dienen, sondern auch die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stärken. Oder man könnte im Land des Meisterzwangs die Dienstleistungen liberalisieren, um das Übergewicht der Exportindustrie zu reduzieren. Hilfreich und wünschenswert wären auch staatliche Investitionen in die öffentliche Infrastruktur und in Bildung, damit Arbeitnehmer zum Beispiel die Digitalisierung meistern. Vom Breitbandausbau bis zur Energieversorgung gibt es viel zu tun. Es fehlt an Geld für Grundlagenforschung und den Kampf gegen die globale Erderwärmung. Nicht zuletzt täten zupackender Maßnahmen zur besseren Integration von Migranten und Flüchtenden not.

Es liegt an der Regierung, mehr für Investitionen zu tun - öffentliche wie private. Allein, es fehlt am Willen. Rühren höhere Ausgaben doch an ein deutsches Dogma: die schwarze Null. Sie stimmt nicht nur den Finanzminister zufrieden, sondern erscheint auch vielen Bürgern als tugendhaft. Ein Fehler! Aktive Wirtschaftspolitik ist gerade jetzt gefordert, da die Notenbanker an die Grenzen ihrer Macht stoßen. Internationale Organisationen wie der IWF und die OECD, die früher entschieden gegen spendable Regierungen wetterten, fordern heute höhere Staatsausgaben. Defizitmachen ist wieder erwünscht. Gerade Deutschland kann sich das leisten.

© SZ vom 03.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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