Samstagsessay:Schrecklich isoliert

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Theresa Mays harter Brexit-Kurs gefährdet die Beziehungen mit der EU. London nimmt das in Kauf und verspricht dafür Exporterfolge in Asien und Amerika. Doch die sind höchst unsicher.

Von Björn Finke

Ein Jammer, dass diese Zeitungs-Schlagzeile eine Erfindung ist, ein moderner Mythos. Oder ein alternativer Fakt, wie so etwas neuerdings in Washington heißt: "Heavy fog in Channel. Continent cut off" - starker Nebel im Ärmelkanal, das Festland ist abgeschnitten. Angeblich soll die Londoner Times das in den Dreißiger- oder Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gedruckt haben. Das stimmt zwar nicht, aber die Schlagzeile passt einfach zu gut, um ein tatsächlich existierendes Phänomen zu veranschaulichen: die Überzeugung vieler Engländer, dass das europäische Festland, die EU, im Vergleich zur Weltmacht Großbritannien schlimmstes Provinztheater ist.

Das Brexit-Lager machte sich diese Geisteshaltung in der Kampagne vor dem EU-Referendum zunutze. Die Austrittsfreunde argumentierten, die Mitgliedschaft in der siechen EU mit ihrer ganzen Bürokratie und den ständigen Krisen halte Großbritannien zurück. Nach dem Brexit könne das entfesselte Königreich zu einer weltweiten Handelsmacht aufsteigen, könne die Märkte aufstrebender Schwellenländer erobern. Ganz ähnlich wie in der guten alten Zeit des Empire. "Die EU ist von gestern. Unsere Zukunft ist global", sagte etwa Austritts-Vorkämpferin Andrea Leadsom, die fast Premierministerin wurde und nun mit dem Landwirtschaftsressort vorliebnehmen muss.

Der Brexit bedient die Sehnsucht nach dem alten Glanz des British Empire

Ihre Chefin, Theresa May, wird den Scheidungswunsch bis Ende März in Brüssel anmelden. Das britische Parlament stimmte in dieser Woche mit großer Mehrheit für diesen Schritt. May warb vor dem Referendum für den Verbleib in der EU, doch jetzt hat sie die Argumente des Austritts-Lagers übernommen. In ihrer großen Brexit-Rede im Januar sprach sie penetrant oft von "Global Britain": Die Trennung ermögliche es, eine wahrhaft global ausgerichtete Handelsnation zu erschaffen. Zugleich werde das Vereinigte Königreich so von der Einmischung Brüssels und des Europäischen Gerichtshofs befreit, versprach die Konservative.

Der Brexit soll das Land also erfolgreicher auf den Weltmärkten und weniger abhängig von der ungeliebten EU machen. Allerdings ist äußerst fraglich, ob sich diese beiden Hoffnungen erfüllen.

"Europa ist unsere Zukunft, Europa ist unser Schicksal", sagte Altkanzler Helmut Kohl einmal. Was sehr pathetisch klingt, ist zugleich eine schlichte Zustandsbeschreibung für die Staaten auf dem Kontinent. Und das gilt ebenso für Großbritannien, selbst wenn Kohls Zitat bei Brexit-Freunden Brechreiz hervorrufen dürfte.

Die Wirtschaft der Länder ist eng verflochten, Grenzen sind schwer zu kontrollieren. Rutschte die EU in eine Rezession, würde das die britische Wirtschaft hart treffen, denn die anderen Mitgliedsstaaten sind mit Abstand die wichtigsten Handelspartner. Der Brexit und das Gerede über globale Chancen werden daran nichts ändern. Zerfiele die Europäische Union in zehn Jahren, würden die politischen Turbulenzen und die Unsicherheit über das künftige Miteinander auch den Nachbarn Großbritannien sehr belasten.

Illustration: Lisa Bucher (Foto: Lisa Bucher)

Der Austritt schirmt das Königreich also nicht ab gegen Probleme der EU. Er führt aber dazu, dass Londons Vertreter nicht mehr mitentscheiden in Brüssel. Großbritannien wandelt sich vom einflussreichen Akteur zum hilflosen Beobachter.

Doch trotz der engen Verflechtungen hat sich im Vereinigten Königreich hartnäckig das Gefühl gehalten, nicht einfach ein Teil Europas zu sein, sondern irgendwie anders, herausgehoben. Das Gefühl speist sich aus dem Status als Atommacht und aus der britischen Geschichte: So wurde die Insel seit 951 Jahren nicht mehr von fremden Mächten erobert. Im 16. Jahrhundert kappte König Heinrich VIII. die Verbindungen zur katholischen Kirche in Rom und gründete die anglikanische Staatskirche. Im Zweiten Weltkrieg war Großbritannien das Bollwerk gegen das Böse vom Festland, gegen Nazi-Deutschland. Und im britischen Empire, dem Kolonialreich, ging die Sonne niemals unter, so groß und weltumspannend war es. Im 19. Jahrhundert, unter Königin Victoria, verfolgte Großbritannien deshalb die Politik der "splendid isolation", der wunderbaren Isolation. London mischte sich möglichst wenig in Angelegenheiten auf dem Festland ein, schloss keine Allianzen, sondern wollte ungestört von europäischem Gezänk sein Weltreich hegen und pflegen.

Nun strebt Theresa May eine neue "splendid isolation" an, zumindest in der Wirtschaftspolitik. London will mit den europäischen Partnern weiter bei Sicherheit und Verteidigung zusammenarbeiten, doch für die Wirtschaft soll der Brexit einen klaren Bruch bedeuten. Das Königreich soll nach dem Austritt im Jahr 2019 nicht am Binnenmarkt oder an der Zollunion teilnehmen. Denn bliebe Großbritannien im Binnenmarkt, würde das Land weiter der Rechtsprechung des EU-Gerichts unterliegen. Und als Mitglied der Zollunion dürfte London keine eigenen Freihandelsverträge abschließen. Dabei sollen solche Abkommen mit Staaten wie China und den USA die Grundlage bilden für den Aufstieg zur globalen Handelsmacht.

Andererseits erschwert aber eben dieser harte Brexit Exporte britischer Firmen in die EU. Doch das nimmt May in Kauf.

Während der wunderbaren Isolation im 19. Jahrhundert verfügte Großbritannien über ein Weltreich und konnte sich die Abwendung von Europa daher erlauben. Premierministerin May hingegen macht Geschäfte auf dem wichtigsten Absatzmarkt, in der EU, mühsamer - und kann bloß hoffen, dass sich der Traum von globaler Exportherrlichkeit schnell erfüllt.

In die anderen EU-Staaten gehen bisher 44 Prozent der britischen Ausfuhren. Viele internationale Konzerne haben Niederlassungen im Königreich aufgebaut, die von dort aus den ganzen Kontinent bedienen. Dank des Binnenmarktes können die Firmen und Banken in jedem Mitgliedsstaat ihre Produkte verkaufen oder Filialen eröffnen, ohne vor Ort eine Erlaubnis einzuholen. Die britische reicht. Diese Vorteile fallen mit dem Ausscheiden aus dem Binnenmarkt weg. Darum werden etwa die Banken Schätzungen zufolge Zehntausende Jobs von Europas wichtigstem Finanzplatz London in Euro-Staaten verlagern. Nur so können sie weiterhin ohne bürokratische Hürden ihren Geschäften auf dem Festland nachgehen.

Der Austritt aus der Zollunion führt dazu, dass wieder Lastwagen an der Grenze kontrolliert werden müssen. Das gilt selbst dann, wenn sich London und Brüssel auf einen Freihandelsvertrag einigen, es also keine Zölle auf britische Waren gibt. Für Manager sind Grenzkontrollen und Zollpapiere schlicht ein Ärgernis. Und diese Ärgernisse betreffen ausgerechnet jenen Markt, der auch in Zukunft das bedeutendste Exportziel für britische Firmen sein wird. Andere Regionen - das boomende Asien, Amerika - werden Europa diesen Rang nicht streitig machen.

Zwar kann die Regierung in London munter Freihandelsabkommen mit Schwellenländern oder den USA abschließen und so Ausfuhren in diese Staaten vereinfachen. London kann aber nicht die Geografie ändern. Und ökonomische Studien zeigen, dass geografische Nähe ein ganz wichtiger Faktor für Exporterfolg ist. Die Faustregel lautet, dass eine Verdoppelung der Distanz zwischen zwei Ländern den Handel zwischen ihnen halbiert. Nähe verringert Transportzeiten und -kosten, und Nähe ermöglicht ein besseres Verständnis der Kultur und Bedürfnisse des Handelspartners. Europa bleibt also - frei nach Helmut Kohl - die Schicksals- und Zukunftsregion für britische Exporteure.

Zumal fraglich ist, ob das Königreich nach dem Brexit wirklich dem Handel mit Asien, Südamerika und den USA mehr Schwung verleihen kann. Austrittsfreunde behaupten, dass die Mitgliedschaft in der EU Exporterfolge auf anderen Kontinenten erschwere: Schuld sei die Brüsseler Bürokratie, außerdem schließe die EU zu wenige Freihandelsabkommen mit boomenden Schwellenländern ab. Diese Argumente sind jedoch zweifelhaft. Das Beispiel Deutschland beweist, dass auch EU-Mitglieder ihre Waren äußerst erfolgreich in allen Ecken der Welt verkaufen können.

Und der Brexit könnte den Handel mit anderen Kontinenten zunächst sogar mühsamer gestalten. Denn die viel gescholtene EU hat gut 50 Freihandelsverträge unterschrieben und so Zölle bei Exporten in Länder wie Südkorea, Mexiko oder Kanada geschleift. London muss nach dem Austritt schnell Ersatzabkommen mit diesen Staaten abschließen, sonst verlieren britische Firmen diese Privilegien.

Europa wird überragend wichtig bleiben, auch wenn die Austrittsfreunde das leugnen

Die Regierung will auch rasch Handelsverträge mit vielen anderen Ländern unterzeichnen, etwa den USA. Tatsächlich versichert Präsident Donald Trump, auf so einen Vertrag werde man sich schnell einigen können. Allerdings ist Trump bisher nicht als Freund des Freihandels und offener Grenzen aufgefallen. Somit ist ungewiss, welche Vorteile ein solches Abkommen britischen Exporteuren wirklich bieten wird.

Genauso ungewiss ist, wie umfassend Schwellenländer wie China und Indien oder Südamerikas Wirtschaftsblock Mercosur Handelsschranken für die Unternehmer Ihrer Majestät niederreißen wollen. Diskutiert die EU mit diesen Staaten, kann sie mit Zugang zu einem Riesenmarkt mit einer halben Milliarde Einwohnern locken. Großbritanniens Wirtschaft ist zwar nicht klein, aber trotzdem weniger attraktiv als der EU-Markt. Entsprechend geringer ist Londons Verhandlungsmacht in solchen Gesprächen. Die Regierungen in Peking und Delhi wissen zudem, dass Theresa May schnell Erfolge präsentieren muss. Vielleicht stimmen sie deshalb rasch einem Abkommen zu - doch nur einem Abkommen, das viel mehr Vorteile für indische und chinesische Firmen bietet als für britische.

Die Jagd nach Handelsverträgen schränkt zudem den Spielraum britischer Außenpolitik ein. May und ihr Außenminister Boris Johnson werden sich in den kommenden Jahren sehr zurückhalten müssen mit Kritik an Regimen wie dem in Peking. Sie können es sich nicht erlauben, China zu verärgern. Großbritannien, die selbsternannte globale Handelsmacht in spe, muss auftreten wie ein Bittsteller.

Der Traum von weltweiter Exportherrlichkeit, einem Empire des Freihandels, könnte sich als genau das erweisen: als bloßer Traum. Sicher ist hingegen, dass Europa der wichtigste Markt für Großbritannien bleiben wird. Und sicher ist auch, dass der Brexit den Handel mit dem Festland erschweren wird. Zugleich mindert er den Einfluss Londons auf die Geschicke des Kontinents. Mays "splendid isolation" dürfte alles andere als wunderbar werden.

© SZ vom 04.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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