Samstagsessay:Neustart

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Brauchen wir noch ein vereinigtes Europa? Für junge Menschen ist das eine neue Frage. Die Antwort gibt es nur in einer gemeinsamen wirtschaftlichen Perspektive.

Von Jan Willmroth

Die erste Erinnerung an die Fahrt über die Grenze ist noch lebendig, es muss 1991 gewesen sein. Kurz hinter der Autobahnabzweigung in Richtung Luxemburg ruhten verlassene, etwas trostlose beigefarbene Häuser, standen rot-weiße Schranken bereit, es quoll das Gras zwischen Pflastersteinen hervor. Was das sei? Hier, nicht weit entfernt von Schengen, musste man früher warten. Als an dieser Grenze noch Beamte standen und die Papiere sehen wollten. Als Europa noch nicht der Ort grenzenloser Freiheit und gemeinsamer Visionen war, zu dem wir es über Jahrzehnte gemacht haben.

Oder wird man bald sagen: hatten?

Junge Europäer sind in einem vereinten Kontinent aufgewachsen. Über die vielen Krisen in der frühen Geschichte der Europäischen Union wissen sie nur aus Lehrbüchern und Erzählungen. Sie kennen Reisen ins Ausland ohne Stau und Kontrollen, sie kennen Auslandssemester und die europäische Produktvielfalt im Supermarkt. Sie haben Familie und Freunde, die wie selbstverständlich in anderen EU-Ländern arbeiten. Sie sind aufgewachsen in einer von europäischen Errungenschaften geprägten Welt: offene Grenzen, Wohlstand, Wettbewerb, der Euro.

Das eigentliche Problem ist das Fehlen einer europäischen Identität

Seit einigen Jahren aber erleben junge Europäer zum ersten Mal große Krisen des politischen und wirtschaftlichen Systems. Europa steht seinem Auseinanderbrechen so nah wie noch nie seit dem Untergang des Sowjetreichs. Das ist nicht alarmistisch, sondern die Realität: Auf die Finanzkrise folgte eine schlimme Rezession, Millionen Menschen verloren ihren Arbeitsplatz, Staaten mussten Banken vor dem Untergang bewahren und gerieten an den Rand des Bankrotts, die Euro-Zone wankt, nationalistische und extrem linke Parteien gewinnen an Einfluss. Jetzt ist ungewiss, ob Großbritannien die EU verlässt; die Flüchtlingskrise ist zur Zerreißprobe geraten. Diese europäischen Krisen haben etwas gemeinsam: sie bleiben ungelöst.

Und sie haben in der wirtschaftlichen Misere nach der Finanzkrise einen gemeinsamen Ursprung. Diese hat millionenfach Perspektiven vernichtet und Lebensläufe gebrochen; eine weitere vergleichbare Rezession würde das System Europa derzeit wahrscheinlich nicht verkraften. Die Arbeitslosenquote in Spanien und Griechenland mag sinken, aber sie liegt seit Jahren jenseits von 20 Prozent; in Portugal, Italien und Frankreich verharrt sie bei mehr als zehn Prozent. Was sollen Hunderttausende Jugendliche und junge Erwachsene, die in einer entscheidenden Phase ihres Erwerbslebens seit Jahren ohne Arbeit bleiben, von diesem Europa erwarten?

Was sie sehen: Neue Feindschaften sind politische Realität, in einigen Ländern regieren bereits EU-Gegner, die Abneigung gegen Brüssel grassiert. Für den amerikanischen Ökonomen Dennis Snower, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, geht es gar nicht so sehr um politische oder wirtschaftliche Fragen, sondern um soziale: Das eigentliche Problem sei das Fehlen einer europäischen Identität als Basis gemeinsamer Politik. Die EU hat in ihrer Geschichte nicht ausreichend ein europäisches Bewusstsein bei ihren Bürgern geschaffen.

Illustration: Sead Mujic (Foto: Illustration: Sead Mujic)

Bis zur Finanzkrise konnte sich der europäische Staatsapparat durch Wachstum und Wohlstand legitimieren. Die EU hat immer von diesem Versprechen gelebt: Es lohnt sich, dabei zu sein. Staaten profitieren, wenn sie sich der Gemeinschaft anschließen, ob von Fördermitteln, dem Anschluss an den Binnenmarkt, einheitlichen Standards oder Investitionen. So reichte dieses Versprechen bis zum einzelnen Bürger. Seit der Finanzkrise aber gilt es nicht mehr. Die wirtschaftliche Misere bedeutete einen Bruch mit dem solidarischen Grundgedanken, der dem Versprechen innewohnt: Wer mitmacht, hat etwas davon - und übernimmt dafür Verantwortung auch für die Schwierigkeiten anderer. Die Finanzkrise wurde so zum übergeordneten Problem; ihre Folgen erschweren die Lösung aller aktuellen Krisen, die Europas Einheit auf die Probe stellen.

Die gegenwärtige europäische Legitimationskrise ist so gewaltig, dass man Perspektiven für einen Aufbruch in eine neue europäische Zukunft in der Vergangenheit suchen muss, in den Ursprüngen der Union. In den Römischen Verträgen von 1957 findet sich das wirtschaftspolitische Kalkül, aus dem später die EU erwuchs. Es lohnt sich, ein solches Werk in diesen Tagen noch einmal zu lesen. Die Abschaffung der Zölle und die Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten sind darin als natürliche Ausgangspunkte einer Gemeinschaft formuliert. Ohne diese Grundlage wäre die EU nie gediehen. Eine entscheidende Frage für das europäische Projekt wird sein, ob es gelingt, diese gemeinsame Basis zu erneuern. Dazu aber braucht es zunächst eine einheitliche Diskussionsgrundlage. Im sechsten Jahr nach Beginn der Eurokrise gibt es sie noch immer nicht.

Beispielsweise hält sich das Narrativ hartnäckig, die südlichen Euro-Staaten hätten nach der Einführung der Gemeinschaftswährung jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt und müssten nun auf den Pfad der fiskalischen Tugend zurückgebracht werden. Vor allem in Deutschland hört man das. Es ist aber zu einfach.

Wie konnte die europäische Malaise überhaupt entstehen? Dieser Frage widmen sich Daniel Gros, Direktor am Brüsseler Thinktank Centre for European Policy Research, und 15 weitere Ökonomen, darunter Ex-IWF-Chefökonom Olivier Blanchard und die Ex-Wirtschaftsweise Beatrice Weder di Mauro, in einem bislang wenig beachteten Diskussionspapier unter der Überschrift "Rebooting the Eurozone" - die Euro-Zone neu starten. "Entscheidungsträger in der Euro-Zone werden sich nie auf Veränderungen einigen können, die nötig sind, um Krisen in Zukunft zu verhindern", schreiben die Autoren, "wenn sie sich nicht auf die Fakten verständigen, die erklären, warum die Krise so schwer wurde und so lange andauert."

Zu den grundlegenden Fakten gehört, dass die Krise im Euroraum ursprünglich keine Staatsschuldenkrise war (Griechenland ist ein Sonderfall), sie wurde erst zu einer: Spanien und Irland beispielsweise erwirtschafteten vor 2008 Haushaltsüberschüsse. Ein Nährstoff der späteren Schuldenkrise waren die enormen internationalen Kapitalströme in die Peripherieländer, die in der Finanzkrise abrupt versiegten. Erst dann entstanden Zweifel an der Zahlungsfähigkeit von Banken und Regierungen gerade in jenen Staaten, die stark von ausländischen Krediten abhingen.

Eine zentrale Rolle spielte dabei der "Teufelskreis" der engen Verflechtung von privaten Banken und Regierungen: Alle Staatsanleihen der Euro-Zone wurden von Regulierern und Aufsichten als gleich riskant eingestuft, ob nun finnische oder griechische. Noch immer halten Banken tendenziell zu viele Staatsanleihen ihrer Heimat und anderer Euro-Länder und lagern damit falsch deklarierte Risiken in ihre Bilanz: Eine Bankenkrise kann automatisch zur Staatsschuldenkrise werden - und umgekehrt. Zugleich durften die Euroländer sich gegenseitig nicht aus der Klemme helfen, was dann die EU-Regierungen im Verlauf der Krise mit Troika-Krediten und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus kreativ umgangen haben.

Beim Errichten der Währungsunion wurden schlicht Institutionen und Anleitungen vergessen, um mit derart heftigen Krisen umzugehen. Ohne solche Mechanismen aber mussten fast sämtliche Symptombehandlungen einstimmig beschlossen werden, was die Lösung der Krise bis heute verzögert. Ja, es gibt nun die Bankenunion, um die europäischen Banken zu stabilisieren. Genau wie den Fiskalpakt, der automatische Sanktionen für zu hohe Neuverschuldung vorsieht. Nach wie vor aber fehlen Instrumente, die eine zweite Große Rezession verhindern könnten.

Ein Teil der in Zukunft nötigen Stabilität entsteht, wenn das Dilemma der Staat-Bank-Beziehung beseitigt wird. Dafür gibt es einen guten Plan: "European Safe Bonds", ein Konzept unter anderem des deutschen Ökonomen Markus Brunnermeier, der in den USA lehrt. Eine neue Behörde würde den Euro-Staaten ihre Staatsanleihen bis zu einer bestimmten Höhe abkaufen und die Risiken neu aufteilen: In besicherte Papiere, die sicherer wären als Bundesanleihen und den Bankrott eines Mitgliedstaats aushielten, und in riskante, spekulative Anleihen. Die Nachfrage der Banken nach sicheren Papieren wäre gedeckt, ihre Bilanzen wären stabiler, Staatspleiten würden nicht mehr den Rest der Euro-Zone anstecken, die Behörde zumeist Gewinn machen. Die Steuerzahler eines Landes müssten anders als bei Euro-Bonds nicht für die Schulden der anderen bürgen. Es müssten dafür nicht einmal die Europäischen Verträge geändert werden.

Denn die wirtschaftliche Entwicklung allein wird nicht helfen, um die Krise zu lösen

Brunnermeiers Vorschlag ist auch deshalb genial, weil er der richtigen Mischung einer modernen, diskretionären Wirtschaftspolitik entspricht: Zugleich ordnungspolitisch gut überlegt, an realen Problemen orientiert - und nicht idealistisch oder naiv, sondern politisch durchsetzbar. Das ist ein Beispiel für viele, wie man mit pragmatischen Maßnahmen grundsätzliche Probleme lösen kann.

Die europäischen Staaten tun gut daran, diese Art von Ideen, wenn sie denn ökonomisch gut begründet sind, aufzunehmen und umzusetzen. Gerade auch die ordnungspolitische Debatte in Deutschland braucht diesen Schuss Pragmatismus. Wenn wir in unseren Dogmen verharren, verlieren wir die Chance, das europäische Versprechen zu erneuern. Denn die wirtschaftliche Entwicklung allein wird nicht helfen: Die Wachstumsraten der EuroZone werden wohl zu niedrig bleiben; das Wachstum der Produktivität, jener Teil des Wirtschaftswachstums, der nicht durch den Einsatz von Arbeit oder Kapital zustande kommt, steht seit Jahren still.

Deshalb geht es nicht ums Geld: Es geht darum, die vielen Bürger, die Europa nur noch mit fiskalischen Zwangsmaßnahmen verbinden, den Wert des europäischen Projekts wieder persönlich erfahren zu lassen. Den Bürgern wird die Bedeutung eines grenzenlosen Europas erst wieder bewusst, wenn sie spüren, welche Möglichkeiten es eröffnet, wenn sie in ihren Fotoalben, an ihren Lebensläufen und auf ihren Konten erkennen, dass es ihnen ohne Europa schlechter ginge.

© SZ vom 19.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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