Samstagsessay:Gute Idee, schlechtes Image

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99 Prozent der ökonomischen Studien halten Freihandel für den besten Weg, Wohlstand zu fördern. Leider ist das Prinzip der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln.

Von Gabriel J. Felbermayr

Der Freihandel ist mal wieder unbeliebt. Ganz besonders im Amerika des Donald Trump. Aber, wie das Abschlusscommuniqué des Hamburger G-20-Gipfels zeigt, sind sogenannte Handelsschutzinstrumente - eine beschönigende Umschreibung von Strafzöllen - auch anderorts salonfähig, wenn sie sich nur gegen "unfaire" Praktiken wenden, was auch immer damit gemeint sei.

Seit zwei Jahrhunderten kämpfen Volkswirte gegen die Manipulation des internationalen Handels zum vermeintlich eigenen Vorteil. Dabei argumentieren sie mit der Theorie der komparativen Vorteile, die David Ricardo vor genau 200 Jahren in seinen "Principles" zum ersten Mal darlegte. Darin zeigte er, dass freier Handel für alle beteiligten Länder vorteilhaft ist. Seine Theorie ist für die Volkswirtschaftslehre so etwas wie das Newtonsche Gravitationsgesetz für die klassische Physik.

Die große Mehrheit der Volkswirte hält am Prinzip des Freihandels fest, einerseits aus theoretischen Gründen. Andererseits aber auch, weil es starke empirische Belege gibt. Das heißt nicht, dass Freihandel nicht auch unerwünschte Nebenwirkungen haben kann. Aber die Ökonomen halten es mit dem Freihandel ähnlich wie einst der britische Premier Winston Churchill mit der Demokratie: die schlechteste aller Möglichkeiten, abgesehen von allen anderen.

Dabei ist in der Diskussion oft unklar, was unter Freihandel zu verstehen ist. In der Tradition Ricardos meint es die Abwesenheit von Diskriminierung im internationalen Wirtschaftsverkehr, keineswegs aber die Abwesenheit eines verbindlichen Regelsystems. Trotzdem unterstellen Kritiker den Freihandelsfreunden oft, solche Regeln untergraben zu wollen - und sie sind in der Öffentlichkeit mit diesen Anwürfen sehr erfolgreich.

Wer die Dynamik der Märkte nicht versteht, der versteht auch Ricardo nicht

Das fehlende Verständnis des Prinzips vom komparativen Vorteil unter den Wählern zusammen mit ihrem gestörten Vertrauen in die politischen Eliten ist ein Problem. Im Herbst 2008, als die Lehman-Pleite die Weltwirtschaft erschütterte, verteidigten die G-20-Staaten noch geschlossen den Freihandel und verhinderten eine Kernschmelze wie in den 1930er- Jahren. Heute wäre das anders. Die USA unter Donald Trump würden wohl zu protektionistischen Maßnahmen greifen, und die anderen G-20-Länder würden mit Gegenmaßnahmen reagieren. Die Geschichte könnte sich wiederholen.

Warum aber ist die Theorie der komparativen Vorteile so schlecht vermittelbar? Dafür gibt es einige Gründe.

Erstens, Ricardos Theorie ist nicht intuitiv. Es leuchtet nicht sofort ein, dass ein Land, das in keinem Wirtschaftszweig produktiver ist als seine Handelspartner, dennoch vom internationalen Warenaustausch profitiert. Sollte es nicht von ausländischen Anbietern in die Pleite getrieben werden, so wie unproduktive Unternehmen? Nein. Der Vergleich mit Firmen führt in die Irre, Länder sind keine Unternehmen. Die Löhne im Land mit der niedrigen Produktivität müssen niedriger sein als im Hochproduktivland, sodass es in jenen Sektoren, in denen es relativ produktiver ist, das Niedriglohnland billiger produzieren kann.

So bleibt zum Beispiel Ungarn, obwohl es in allen Wirtschaftszweigen absolute Nachteile gegenüber Deutschland hat, im Geschäft mit Deutschland, ja, es erzielt sogar einen bilateralen Handelsüberschuss. Wenn das Land sich abschottete, stellte es sich schlechter, denn es wäre gezwungen, auch jene Produkte selbst herzustellen, bei denen es besonders unproduktiv ist. Und dasselbe gilt für seinen Handelspartner: Auch Deutschland müsste dann das vorher aus Ungarn importierte Gut, bei dem es einen komparativen Nachteil besitzt, selbst herstellen.

Im Übrigen braucht es für die Herstellung dieser Arbeitsteilung keinen wohlwollenden globalen Diktator, wie manchmal behauptet wird. Der Markt löst diese Aufgabe: Die Unternehmen spezialisieren sich auf Güter mit komparativen Vorteilen, weil das schlicht profitabler ist, und die Konsumenten kaufen von den günstigsten Anbietern. Wer aber diese Dynamik der Märkte nicht verstehen will oder kann, für den muss Ricardos Theorie unbegreiflich bleiben.

Das Prinzip vom komparativen Vorteil ist abstrakt. Anders als das Newtonsche Gravitationsgesetz kann es nicht einfach mithilfe eines Apfels empirisch verifiziert werden. Im Idealfall wollte man dieselben Länder jeweils in einem Zustand von Freihandel und einem von Autarkie vergleichen, um den kausalen Effekt von Handel auf Wohlstand zu erforschen. Glücklicherweise gibt es solche "natürliche Experimente", die Ricardos Thesen eindeutig belegen: zum Beispiel die plötzliche Öffnung des japanischen Kaiserreiches im Zuge der Meiji-Restauration, oder die Blockade des Gazastreifens 2007 - 2010. Andere Forscher nähern sich der Frage mit statistischen Methoden. Insgesamt zeigen 99 Prozent der Studien die Überlegenheit des Freihandels gegenüber der Abschottung.

Das zweite Problem: Handelspolitik bringt, wie von Ricardo schon 1815 beschrieben, regelmäßig Gewinner und Verlierer hervor. Die Einführung der Getreidezölle im Zuge der Napoleonischen Kriege im Vereinigten Königreich schadete der Unterschicht, nützte aber den Landeigentümern, weil der Weizenpreis hoch blieb. Das erklärt auch, warum die "Corn laws" so langlebig waren. Erst nach einer fürchterlichen Hungersnot in Irland mit Hunderttausenden Toten wurden die Zölle abgeschafft. Die folgende Schrumpfung des Agrarsektors hatte dann aber viele Landarbeiter zunächst ins Elend gestürzt, bis sie Jobs - später auch gute - im aufstrebenden Industriesektor fanden.

Damals wurden die Verlierer nicht kompensiert und auch heute gibt es kaum direkte Kompensation. Aber die meisten fortgeschrittenen Länder haben Sozialversicherungssysteme, die Härtefälle abmildern. Freilich bleiben die Verlierer auf Kosten sitzen, zum Beispiel in Form längerer Arbeitslosigkeit oder niedriger Löhne, das zeigten jüngere empirische Untersuchungen. Eine Versicherung kann aber nur mit einem Selbstbehalt funktionieren, sonst erlöschen alle Anreize, die eigene Situation durch eigene Initiativen zu verbessern.

Eigentlich bringt jede wirtschaftspolitische Maßnahme - sei es Regulierungs-, Steuer- oder Bildungspolitik - Gewinner und Verlierer hervor. Das Gleiche gilt für technischen Fortschritt, der in seiner Wirkungsweise der Handelsliberalisierung sehr ähnlich, empirisch aber um ein Vielfaches wichtiger für die Dynamik der Ungleichheit ist. Interessanterweise provoziert aber vor allem die Handelspolitik Verteilungs- und Gerechtigkeitsdebatten - vielleicht deshalb, weil Handelspolitik "gemacht" wird, sodass Schuldige benannt werden können, während technologischer Wandel einfach "passiert"?

Was folgt daraus? Handelsliberalisierung muss durch moderne soziale Sicherungssysteme begleitet werden, auch wenn man diese vordringlich für die Bewältigung der Folgen des technischen Wandels braucht. In vielen Ländern herrscht hier Modernisierungsbedarf. Übrigens ist das den internationalen Organisationen mittlerweile bewusst, wie ein aktueller Bericht von Weltbank, IWF und WTO zeigt.

Das dritte Problem mit Ricardos Theorie ist, dass sie 200 Jahre alt ist. In der heutigen Welt sind Ideen und Kapital vielfach mobiler als Güter selbst. So werden technologische Unterschiede immer schneller ausgeglichen, die Strukturen komparativer Vorteile werden immer ähnlicher, und das Ricardianische Motiv für den internationalen Handel schrumpft. Alternative Theorien stehen bereit, die Produktdifferenzierung und Größenvorteile in der Produktion betonen. Sie kommen aber keineswegs zu anderen Schlüssen als die Theorie aus 1817, weder was die Vorteilhaftigkeit von Handel insgesamt, noch was seine Verteilungseffekte angeht.

Problematischer ist, dass die Gegenstände der Handelspolitik heute andere sind als früher. Zölle und Quoten sind weitgehend abgeschafft, dafür geht es häufig um ökologische oder verbraucherschützerische Interessen. Der diskriminierende Gehalt vieler Gesetze und Regulierungen ist von legitimen politischen Zielen oft kaum zu trennen, was das Entlarven des Protektionismus erschwert.

Der neue Protektionismus zeigt sich gern in einem grünen Gewand

Das wichtigste Problem mit dem Freihandel ist ein politökonomisches. Freihandelsabkommen werden oft missbraucht, beispielsweise um wirtschaftspolitische Ziele, die sonst nicht durchsetzbar sind, völkerrechtlich zu verankern. Die einen wünschen sich, staatliche Eingriffe insgesamt - ob diskriminierend oder nicht - zurückzudrängen; die anderen hoffen, mit Handelspolitik sozialpolitische Vorstellungen in andere Länder zu exportieren. Die Bürger verstehen das; daher sollten wahre Freunde des Freihandels darauf bestehen, dass die Verträge schlank, auf die Nichtdiskriminierung fokussiert und allgemein verständlich sind. Das ist viel wichtiger als die von Attac und anderen Freihandelsgegnern so vehement geforderte Transparenz bei den Verhandlungen.

Die Existenz von Verlierern macht Handelsliberalisierung schwer umsetzbar, weil die Verluste auf wenige konzentriert sind, während die Gewinne sich auf viele verteilen und daher pro Kopf klein sind. Das erklärt die asymmetrische Mobilisierung in Globalisierungsdebatten. Dazu kommt, dass die Identität der Verlierer immer erst dann wirklich feststeht, wenn die Maßnahme einmal implementiert ist. Diese Unsicherheit kann in demokratischen Verfahren zur Ablehnung von Liberalisierung führen, auch wenn im Nachhinein eine breite Mehrheit davon profitierte; dies zeigte der Harvard-Ökonom Dani Rodrik schon vor Jahren.

Politiker, die die Freihandelsidee voranbringen wollen, müssen deshalb oft Allianzen mit Merkantilisten eingehen, denen es vor allem um immer höhere Exporte geht. Merkantilisten - auch so mancher Lobbyist der deutschen Exportindustrie - behandeln Ricardo wie eine Straßenlaterne, unter der sie nicht Erleuchtung, sondern schlicht einen Stütze suchen für fragwürdige Positionen. Ökonomen sollten sich davon aber klar abgrenzen.

Gabriel J. Felbermayr ist Leiter des Ifo-Zentrums für Außenwirtschaft und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

© SZ vom 22.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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