Samstagsessay:Die Industrie stirbt

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Die Zukunft gehört den Dienstleistungen und der fabrikfreien Wirtschaft. Für Millionen Beschäftigte wird der Strukturwandel zum Problem, vor allem für weiße Männer.

Von Catherine Hoffmann

Ob Autoindustrie oder Energiekonzerne - alteingesessenen Branchen fällt der Sprung in die Zukunft oft schwer. Die deutschen Autohersteller wollen sich nicht vom Verbrennungsmotor verabschieden, die Energieversorger hadern mit der Umstellung auf Wind und Sonne. Solange die bewährten Geschäfte noch laufen, scheuen viele Konzerne Neues. Während die Autobauer mit Kartellen und vermutlich sogar Betrügereien gegen technologische Umwälzungen und den schleichenden Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit kämpfen, drohen sie bei der Elektromobilität den Anschluss an die internationale Konkurrenz zu verpassen. Die Wirtschaft steckt mitten in einem strukturellen Umbruch, für den Automobilindustrie und Stromversorger nur exemplarisch stehen, der aber alle betrifft.

"Wir leben in einem technologischen Strukturbruch, der Geschäftsmodelle und Branchen erheblich unter Druck setzen und verändern wird", sagt Henning Vöpel, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI). "Wer versucht, einfach nur die Vergangenheit in die Zukunft zu retten, wird schon schnell ein böses Erwachen erleben." Die Umwälzungen sind so radikal, wie es zuletzt die Industrialisierung gewesen ist. Globalisierung und technischer Fortschritt treiben den Wandel voran. Vor allem die Digitalisierung krempelt ganze Branchen um und beschleunigt den Übergang von der industriellen Welt in eine Wissensgesellschaft.

Aus ökonomischer Sicht ist die Entwicklung ebenso normal wie unvermeidlich: "In den Industrienationen liegt die Industrie im Sterben - wie einst der Agrarsektor", sagt der Ökonom Norbert Berthold. Die Zukunft gehört den Dienstleistungen und der fabrikfreien Wirtschaft. Für viele (weiße) Männer ist das eine schlechte Nachricht: Der Umbruch trifft vor allem einfache Arbeiter, schmerzt aber auch die Mittelschicht.

Jean Fourastié hoffte einst auf mehr Wohlstand und humane Arbeitsbedingungen

Das beste Beispiel für die neue Wirtschaftswelt ist Apple: Forschung und Design werden zu Hause in Kalifornien ersonnen, aber die Fabriken für iPhone und iPad stehen in China. Diese Arbeitsteilung wird in Zukunft nicht die Ausnahme sein, sondern der Normalfall. Ein anderes Beispiel für die modernen digital-industriellen Player ist Tesla: Das US-Unternehmen baut nicht nur Elektroautos, sondern will mithilfe künstlicher Intelligenz und ungeheurer Datenmengen dafür sorgen, dass Tesla-Wagen eines Tages komplett autonom fahren. So wird aus den physischen Produkten eine Dienstleistung.

Lange Zeit wurde der Strukturwandel in den westlichen Volkswirtschaften durch eine weltweit expansive Geld- und Fiskalpolitik maskiert. Die gute Konjunktur ließ die Illusion entstehen, dass auch die mittelfristigen Perspektiven für Traditions-Branchen günstig sind. Bis die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/9 die Deindustrialisierung in den meisten Industrienationen vorantrieb, ein Trend der schon viel früher begann.

Von der industriellen Revolution Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er-Jahre führten sinkende Transportkosten und freierer Handel zunächst zu einer schnellen Industrialisierung vieler reicher Volkswirtschaften. Stahlwerke, Eisenbahn- und Stromnetze wurden aufgebaut, die Bedeutung des Agrarsektors nahm ab. Weil es leichter wurde, Menschen und Dinge zu transportieren, war es nicht mehr notwendig, Waren in unmittelbarer Nähe zu den Verbrauchern zu produzieren. Das beflügelte den internationalen Handel zwischen Unternehmen. So beschreibt der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Baldwin die erste Welle der Globalisierung. Sie hatte beeindruckende Folgen: Der Anteil der sieben führenden Industrienationen am weltweiten Bruttoinlandsprodukt schnellte von einem Fünftel im Jahr 1920 auf zwei Drittel in den 1990er-Jahren.

Illustration: Sead Mujic (Foto: Illustration: Sead Mujic)

Irgendwann zwischen 1985 und 1995 kehrte sich dieser Trend langsam um, glaubt Baldwin. Die Globalisierung änderte ihr Gesicht. Informations- und Kommunikationstechnologien erlaubten es High-tech-Unternehmen, ihr firmenspezifisches Know-how mit billiger Arbeit in aufstrebenden Volkswirtschaften zu kombinieren. Das Unternehmen war nicht mehr die kleinste Einheit der Wirtschaft. Nun wurde die Arbeit fragmentiert, Wertschöpfungsketten wurden aufgespalten, Teile konnten ins Ausland verlagert werden, dank Computern und Telekommunikation behielt man sie unter Kontrolle.

Das veränderte die Arbeitswelt grundlegend: Millionen Jobs im verarbeitenden Gewerbe verschwanden aus Europa und den USA. Der technische Fortschritt und die internationale Arbeitsteilung führten zu einer schnellen Deindustrialisierung. Dabei erging es Deutschland nicht so schlecht wie anderen Ländern. Zwar gingen auch hierzulande Hunderttausende Arbeitsplätze verloren. Besonders stark betroffen waren das Ruhrgebiet, die Südwestpfalz und Oberfranken, weil ihre Schwerindustrie, Textil-‐ oder die Spielwarenhersteller mit Billiganbietern aus Osteuropa und Asien konkurrieren mussten. Zugleich wurden aber auch neue Stellen geschaffen, nicht zuletzt weil Chinesen im großen Stil deutsche Autos und Maschinen kauften. Auch wurden die Fabriken modernisiert, sodass das produzierende Gewerbe mit weniger Mitarbeitern auskam: Waren 1990 noch 26 Prozent aller Beschäftigten hier tätig, sind es 2015 nur noch 17 Prozent. Im selben Zeitraum stieg der Anteil der Erwerbstätigen in den Dienstleistungsbranchen von 35 auf 43 Prozent. Eine ähnliche Veränderung der Arbeitswelt lässt sich in alle Industrieländern beobachten.

Es schien sich zu bewahrheiten, was der französische Ökonom Jean Fourastié schon vor 60 Jahren in seiner Drei-Sektoren-Hypothese beschrieben hatte: Moderne Volkswirtschaften durchlaufen demnach eine lineare Entwicklung von der Agrar- über die Industrie- bis zur Dienstleistungsgesellschaft. In Letzterer sah Fourastié einen großen Fortschritt hin zu mehr Wohlstand und humaneren Arbeitsbedingungen. Doch längst ist der Optimismus der Skepsis gewichen.

Den Preis für den jüngsten Strukturwandel zahlen vor allem gering qualifizierte Fabrikarbeiter, aber auch Facharbeiter, die ihre Jobs verlieren und schlechter bezahlte Dienstleistungsjobs annehmen müssen, wenn sie überhaupt Arbeit finden. Der globale Handel und die Produktivitätsfortschritte machen zwar alle beteiligten Volkswirtschaften reicher, aber sie vergrößern auch die Ungleichheit. Und sie schaffen Verlierer, das wurde von Ökonomen und Politikern lange Zeit übersehen.

Wer in den 80er- oder 90-Jahren noch in der amerikanischen oder europäischen Textil-, Möbel-, Spielwaren-, Stahl- oder Kohleindustrie beschäftigt war, für den ging es bergab. Zwischen 1980 und heute verschwanden von den einst 22 Millionen Stellen im verarbeitenden Gewerbe der USA sieben Millionen. Kein Wunder, dass die Unzufriedenheit in den betroffenen Regionen besonders groß ist und viele Menschen Donald Trump gewählt haben.

Der US-Präsident hat China zu seinem Lieblingsfeind erkoren und einfache Lösungen für die Probleme angeboten: Protektionismus und "America first". Das hat ihn zwar ins Weiße Haus gebracht, gegen den Strukturwandel helfen Einfuhrzölle und dergleichen aber nicht. Der Wandel zur Wissensgesellschaft lässt sich durch Abschottung nicht aufhalten, dafür sorgt allein schon der technische Fortschritt.

Die meisten Ökonomen sind sich darin einig, dass der Verlust an industrieller Beschäftigung weniger auf weltweit offene Märkte, sondern vor allem auf die Digitalisierung, Roboter, künstliche Intelligenz und dergleichen mehr zurückzuführen ist. Infolge der ungebremsten Verbreitung moderner Technik produziert die Industrie immer effizienter und mit weniger, dafür aber sehr gut ausgebildeten Menschen.

Was wird aus den sechs Millionen Beschäftigten in deuschen Fabriken?

Niemand sollte sich von der prosperierenden Gegenwart täuschen lassen: Auch die deutsche Wirtschaft steht vor fundamentalen Umbrüchen, die Autoindustrie ist nur ein Beispiel. Sie sollte sich an die Spitze der Transformation setzen, Elektromobilität und autonomes Fahren willkommen heißen, statt auf wettbewerbswidrige Weise schmutzige Diesel-Modelle zu verteidigen. Sonst droht ihr, auch wenn das aus heutiger Sicht abenteuerlich erscheinen mag, ein ähnliches Schicksal wie einst der Textil-, Kohle- oder Werftindustrie. An die Folgen für die Wirtschaft mag man gar nicht denken. Aber auch, wenn es so schlimm nicht kommt und viele Auto-, Maschinen- oder Anlagenbauer eine blendende Zukunft vor sich haben, ist zu bezweifeln, dass dies auch für die Arbeitnehmer gilt.

Die sechs Millionen Beschäftigten in deutschen Auto-, Maschinenbau- und anderen Fabriken werden das mit Schrecken lesen. Wird ihre Arbeit in Zukunft überflüssig sein? Viele Politiker sind schon heute alarmiert. Dort gibt es oft den Reflex, die alten Strukturen zu bewahren - koste es, was es wolle. Das ist verständlich. Zumal bekannt ist, dass in Regionen, denen der Strukturwandel besonders hart zusetzt, mehr Menschen für extreme Vertreter traditioneller Parteien votieren wie in den USA oder sie gleich extreme Parteien wählen wie in Europa. Aber diese Verzögerungstaktik hilft meist wenig. Was also ist zu tun, wenn man den Fortschritt nicht behindern und Populisten wie Trump das Feld nicht kampflos überlassen will? Dann muss man den Verlierern des Strukturwandels helfen: Mehr Bildung für alle Altersgruppen, aktive Arbeitsmarktpolitik und bessere Sozialleistungen sind unabdingbar. Vor allem Aus- und Weiterbildung gilt langfristig als die beste Versicherung gegen spätere Arbeitsmarktrisiken.

Ob aber der Schuhmacher, der in Pirmasens seinen Arbeitsplatz verloren hat, durch Umschulung schnell für neue Jobs in zukunftsträchtigeren Wirtschaftsbereichen fit gemacht werden kann, ist ungewiss. "Ich sehe da schwarz", sagt der Ökonom Berthold, der nicht an den Erfolg aktiver Arbeitsmarktpolitik glaubt. Er befürchtet, dass der Strukturbruch eine verlorene Generation zurücklässt, die mit der Digitalisierung nicht Schritt halten kann. Ihr droht der Abstieg in die Langzeitarbeitslosigkeit. Weder Politik noch Wissenschaft haben heute eine Lösung für das Problem. Höchste Zeit darüber nachzudenken.

© SZ vom 12.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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