Psychologe Gerd Gigerenzer:"Ökonomie geht nicht ohne Vertrauen"

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Nichts in der Welt ist sicher außer dem Tod und der Steuer, sagt der Psychologe Gerd Gigerenzer. Daher sollten wir rationaler mit unseren Ängsten umgehen.

C. Hoffmann

Gerd Gigerenzer, 61, hält nicht viel von der Ansicht der meisten Ökonomen, der Mensch sei ein rationaler Nutzenmaximierer. Mit seinem Buch "Bauchentscheidungen" hat er ein Lob auf die Macht der Intuition verfasst. Gigerenzer ist Professor für Psychologie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.

Professor Gerd Gigerenzer: "Vertrauen hat zwei Seiten." (Foto: Foto: Dietmar Gust)

SZ: Herr Gigerenzer, der russische Politiker Lenin soll einmal gesagt haben: Vertrauen ist gut, Kontrolle besser. Steckt Wahrheit in der Redewendung?

Gigerenzer: Vertrauen hat zwei Seiten: Wir könnten nicht leben in einer Gesellschaft ohne Vertrauen, aber Vertrauen kann uns auch ins Verderben führen. Es kommt also darauf an, zu wissen, in welcher Situation wir jemandem blind vertrauen können und wann wir seine Aussage prüfen müssen.

SZ: Ist Vertrauen für eine Wirtschaft lebensnotwendig?

Gigerenzer: Wir könnten keine Wirtschaft betreiben, hätten wir nicht Vertrauen. Wenn sie mit jemandem ein Geschäft machen, müssen sie ihm vertrauen: Sie erwarten, dass er das Geld zurückzahlt, das sie ihm leihen, und dass sie nicht betrogen werden. Die Kunden müssen Vertrauen haben in die Banken und nicht alle hinströmen und ihr Geld abziehen, denn dann bricht die Bank zusammen. Ökonomie geht also gar nicht ohne Vertrauen - nur kommt es in den Gleichungen der Wirtschaftswissenschaftler meist nicht vor.

SZ: Die traditionelle Ökonomie sieht den Menschen als Homo oeconomicus, als rationalen Maximierer seines eigenen Nutzens. Führt das Modell in die Irre?

Gigerenzer: Die klassische Ökonomie hat sich im Menschen getäuscht. Das zeigt etwa die Spieltheorie. Die ökonomisch rationale Lösung ist nicht immer die beste. Man weiß schon seit langem, dass einfache Strategien wie tit-for-tat, auf deutsch etwa "wie du mir, so ich dir", zu größerem Erfolg führen können.

SZ: Was ist damit gemeint?

Gigerenzer: Es ist eine Strategie, die viele Menschen intuitiv verfolgen. Sie beginnt damit, dass sie in einer Verhandlung darauf vertrauen, dass der andere mit ihnen kooperiert. Im zweiten Schritt imitieren sie dann die Handlung ihres Partners: Kommt er ihnen entgegen, bleiben sie ihm gewogen. Weist er sie ab, schlagen sie zurück. Mit dieser Strategie können sie weiter kommen als mit einer vermeintlich rationalen Strategie des Misstrauens. Das funktioniert im Geschäftsleben, in der Partnerschaft und beim Kindererziehen.

SZ: Wie entsteht überhaupt Vertrauen?

Gigerenzer: Wir Menschen sind genetisch mit der Möglichkeit zum Vertrauen ausgestattet. Im Tierreich gibt es das in dieser Art nicht. Wir sind mit das sozialste Tier, das existiert. Denn wir kooperieren mit anderen, die nicht genetisch mit uns verwandt sind. Nehmen sie dieses Interview: Ich habe ein gewisses Vertrauen darin, dass Sie das, was ich sage, nicht vollkommen entstellen. Und Sie müssen mir vertrauen, dass ich keinen Schwachsinn erzähle.

SZ: In der Bankenwelt herrscht aber Misstrauen. Wie lässt es sich verscheuchen?

Gigerenzer: Man sollte für Transparenz sorgen.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie Transparenz Vertrauen schafft, warum die Bevölkerung Konjunkturprognosen nicht vertraut - und warum uns die Vogelgrippe panisch machte.

SZ: Klingt ziemlich banal.

Gigerenzer: Ist es aber nicht. Ich traf vor einigen Wochen Mervyn King, den Präsidenten der Bank von England. Als er seinen Job antrat, fragte er Paul Volcker um Rat, den früheren Chef der US-Notenbank, wie er sich am besten verhalten solle. Volcker gab ihm den Rat - in einem Wort: "mystic". King sollte also geheimnisvoll agieren, rätselhaft bleiben, so wie Volckers Nachfolger Alan Greenspan. King entschied sich jedoch für das Gegenteil, nämlich Transparenz.

SZ: Hat es geholfen?

Gigerenzer: Das Experiment hat sich gelohnt. Die Bank von England zählt heute zu den Institutionen, in die die Briten am meisten Vertrauen haben. Wie hat King das geschafft? Er war offen und ehrlich über Risiken und Unsicherheiten. Wenn die britische Notenbank eine Vorhersage macht über das Wirtschaftswachstum oder die Inflation, gibt sie nicht eine genaue Zahl an, 1,6 etwa, sondern eine ganze Spannbreite, sagen wir 0,8 bis 2,4. Denn so genau weiß es niemand, auch die Ökonomen nicht. Zudem veröffentlicht die Bank die gesamte Diskussion ihres Boards über solche Vorhersagen. So kann sich jeder ein Bild davon machen, welche Argumente es für und wider eine Entscheidung gab.

SZ: Ein Vorbild für Deutschland?

Gigerenzer: Die positive Wirkung dieser Politik der Transparenz hat man in Deutschland noch nicht verstanden. Politiker und Notenbanker versuchen noch immer, der Öffentlichkeit viele Unsicherheiten vorzuenthalten, weil sie denken, die Bürger verstünden das nicht oder es verwirrte sie. Das ist einer der Gründe, warum die Deutschen wenig Vertrauen in Regierungen und Parlamente haben.

SZ: Auch den Volkswirten glaubt man nicht.

Gigerenzer: In Deutschland gibt es Punktprognosen für die Wirtschaftsentwicklung. Aber die Leute denken: Das zählt ja eh nichts, die Zahl wird morgen sowieso korrigiert. Dennoch wird bei der nächsten Prognose wieder so getan, als sei sie sicher.

SZ: Was folgt daraus?

Gigerenzer: Wir müssen den vernünftigen Umgang mit Unsicherheiten lernen. Und wir müssen den Glauben aufgeben, dass irgendjemand anderes alles mit Sicherheit weiß. Es kann keine Gewissheit geben.

SZ: Warum fällt es uns so schwer, mit der Ungewissheit zu leben?

Gigerenzer: Das frage ich mich auch. Es gibt viele Institutionen, welche die Illusion der Gewissheit verkaufen - Astrologen, Versicherungen, Regierungen, Mediziner, Militärs, Wissenschaftler. Wir haben es nicht geschafft, den Bürgern zu helfen, mit den Unsicherheiten einer modernen Welt vernünftig umzugehen. Erinnern Sie sich noch an die Vogelgrippe?

SZ: Allerdings.

Gigerenzer: Wie haben wir alle gezittert, als der erste Schwan infiziert war! Und dann die Bilder: Die Wissenschaftler, die das als gefährlich identifizierte Tier in der Hand hielten, mit ihren astronautenähnlichen Kleider an. Doch inzwischen essen wir alle wieder Hühner.

SZ: Warum geraten wir so schnell in Panik?

Gigerenzer: Schon die Schule versagt. Statt jungen Menschen beizubringen, dass nichts in dieser Welt sicher ist - außer der Tod und die Steuern, lassen wir sie in der Illusion, dass es null Risiko gebe. Wir bringen unseren Kindern die Mathematik der Sicherheit bei, Trigonometrie, Geometrie, Algebra, und nicht die Mathematik der Unsicherheit, statistisches Denken. Es ist schade, dass die Gesellschaft noch nicht reif ist, den Unsicherheiten ins Auge zu sehen.

SZ: Sind die Deutschen besonders irrational im Umgang mit der Unsicherheit?

Gigerenzer: Andere Länder sind auch betroffen. Dass die Illusion von Gewissheit hierzulande so weit verbreitet ist, hat auch etwas mit einer paternalistischen Gesellschaft zu tun, in der Bürger nach oben zu vermeintlichen Autoritäten aufschauen. Und es hat mit einem Mangel an Bildung zu tun.

SZ: Wie sollen wir mit Unsicherheiten umgehen?

Gigerenzer: In zwei Worten: entspannt riskant.

SZ: Und in zwei Sätzen?

Gigerenzer: Wir brauchen eine informierte Gesellschaft, die ein natürliches Verhältnis zu Unsicherheiten hat. Und wir müssen lernen, Verantwortung für uns selbst zu übernehmen, statt nur auf das Urteil anderer zu vertrauen.

SZ: Also gilt doch der Satz: Vertrauen ist gut, Kontrolle besser?

Gigerenzer: Wenn die nächste Panikwelle losbricht und sie Angst spüren, dann sollten sie wissen: Ich habe auch ein Großhirn.

© SZ vom 22.12.2008/tob - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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