Porträt der Kultmarke:Mamma Moleskine

Im Zeitalter der Smartphones sind analoge Notizbücher der Renner: Moleskine ist eine Erfolgsgeschichte. Ganz ohne Werbung wurden die schwarzen Notizbücher zur Massenware. Das Märchen soll weitergehen - an der Börse.

Ulrike Sauer, Mailand

Die Geschichte beginnt im Sommer, auf einem Segelboot vor der tunesischen Küste. Ein Urlaub auf dem Mittelmeer, unterwegs mit alten Freunden. Sie ist Soziologin und betreibt in Rom eine Agentur für Marketingberatung und Produktentwicklung. Er führt in Mailand eine Handelsfirma, die unter anderem Gebrauchsgegenstände der deutschen Designmarke Authentics vertreibt. Er wünscht sich, selbst etwas herzustellen. Sie soll ihm die Idee geben.

Das war 1995. Heute empfängt Maria Sebregondi in Mailand in ihrem gläsernen Büro im Hinterhof einer stillgelegten Gerberei. Der Weg zu ihr führt durch den großen Fabrikraum, in dem dicht an dicht junge Leute an Computerschirmen sitzen. Willkommen bei Moleskine, Hersteller kultiger, schwarzer Notizbücher, die ein Gummmiband, eine Innentasche, abgerundete Ecken und ein stolzer Preis unverwechselbar machen. 14 Millionen Mal verkaufte sich die Idee Sebregondis im vergangenen Jahr. Der Wind ist so stark, dass Moleskine nun Kurs auf die Börse nimmt.

Es ist eine erstaunliche Entwicklung: Mitten im Zeitalter der Smartphones und iPads entpuppen sich analoge Notizbücher als Renner, und der Hersteller wagt sich an die Börse - dorthin, wo Facebook gerade einen Flop landete.

Identitätsstifter im Baumwoll-Einband

Die Geschichte von Maria Sebregondis Wiederentdeckung erzählt von der Macht intelligenten Marketings. Und von der Kraft einer guten Story. Die Italienerin erzählt sie auf dem Faltblatt, das den Büchern beigelegt ist. Sie spielt in Paris, wo der Schriftsteller Bruce Chatwin eines Tages feststellte, dass seine geliebten Notizbücher unauffindbar geworden waren. Die französische Manufaktur hatte das Binden der Kladden eingestellt. Der Verlust der "moleskine", wie der Schriftsteller sie getauft hatte, soll Chatwin 1986 tief betrübt haben. Die Mailänder Neuauflage 1997 kam zu spät. Chatwin starb 1989.

"Legendär" nennt Sebregondi die Notizbücher mit dem strapazierfähigen Einband aus gewachster Baumwolle. Das Ausmaß ihres Erfolgs findet die Moleskine-Managerin selbst "überraschend". Als hätte sie einen versunkenen Schatz gehoben.

Damals, 1995, beim Segeln, suchten Sebregondi und ihr Auftraggeber Francesco Franceschi Zeittrends. Da war auf der einen Seite die Zunahme des Reisens, der Boom der Billigflüge, die internationalen Blockbuster-Ausstellungen als Publikumsmagneten, das häufige Unterwegssein, das zugleich der Bildung, der Unterhaltung und der Arbeit gewidmet war. "In einer globalen Nische wuchs eine kreative Klasse heran, moderne Nomaden, die Neugier und ein ähnlicher Lebensstil verbanden", sagt Sebregondi. Man reist mit leichtem Gepäck, das Notebook in der Tasche. Wenig später liest Sebregondi Chatwins "Traumpfade". In dem Roman über eine Reise zu den australischen Ureinwohnern berichtet der Brite seitenlang vom Verlust der unverwüstlichen Schreibhefte. Wie in einem Puzzle fügen sich die Einzelteile zusammen.

Kritiker sagen: Das ist alles nur Marketing

Sebregondi war fündig geworden. "Ich schlug eine Serie von Gegenständen vor, die perfekt den Zeitgeist interpretierten", sagt sie. Das schwarze Notizbuch stand im Mittelpunkt. Sie sieht in ihm einen "Identitätsstifter". Der Mensch definiere sich heute stark über Dinge, die ihn begleiten, Dinge "die sagen, wer wir sind". Aus einem Produkt für eine elitäre Klientel - von Ernest Hemingway, Vincent van Gogh, Pablo Picasso bis hin zu Chatwin - wurde eine Massenware. Ganz ohne Werbung.

Ist die Moleskine-Geschichte nur ein Märchen?

Moleskine expandierte formidabel mit Zuwachsraten von jährlich 20 bis 30 Prozent - und traumhaften Margen. 2011 wurde ein Umsatz von 66,6 Millionen Euro erzielt. 16 Millionen Euro Reingewinn fielen dabei ab. Pech für die Franzosen: Die Erfinder der namenlosen Notizbücher hatte keinen Markenschutz beantragt. Die Rechte sicherten sich erst die Mailänder. Sie verkaufen heute in 70 Länder.

Der Erfolg lockt Neider - und Kritiker. Alles nur Marketing, heißt es. Dem Kunden werde mit der Entstehungsgeschichte ein modernes Märchen vorgesetzt. Sebregondi entlockt das ein Lächeln. "Ich glaube an ein authentisches Marketing", entgegnet die 63-Jährige. Bei Moleskine habe man das Glück, mit unvergänglichen Werten zu arbeiten. Unter den 500 verschiedenen Notebook-Versionen ist der schwarze Klassiker ihr Bestseller geblieben.

Sebregondi gab 2007 ihre Selbständigkeit als Strategieberaterin, Dozentin und Kreativitätstrainerin auf. Sie zog von Rom nach Mailand, um als Produktmanagerin die Weiterentwicklung von Moleskine voranzutreiben. Ein Jahr zuvor war der französische Finanzinvestor Syntegra Capital dort eingestiegen. Da beschäftigte Moleskine 17 Mitarbeiter. Heute sind es hundert. 2008 wurde eine Niederlassung in New York eröffnet, 2011 in Hongkong.

Sebregondi hat die Angebotspalette deutlich erweitert. Es kamen Schreibutensilien aller Art hinzu. Und Schutzhüllen für elektronische Begleiter. Sie seien für die harte Seite des modernen Nomadenlebens, kommentiert sie schmunzelnd.

Die Web 2.0.-Generation fliegt auf ihre kabellosen, akkufreien Kladden. Dem trendigen Schreibblock widmen sich sogar diverse Blogs. Bei Facebook ist die Gefolgschaft auf 123.000 Freunde angeschwollen. Längst arbeitet Sebregondi an der Verknüpfung von analoger und digitaler Kreativität - dem Wachstumstreiber der Zukunft. Auf der Unternehmens-Webseite bietet sie mit dem Dienst MSK 2.0 die Möglichkeit, Online-Notizbücher zu gestalten und mit anderen auszutauschen. Einer Welt, die sich auf Papier ausdrücke, verschaffe das Internet Öffentlichkeit, sagt sie und denkt über das Drucken gescannter Bücher nach.

Dass Moleskine in Mailand neugeboren wurde, muss kein Zufall sein. "Vielleicht betrachtet man hier Überkommenes in neuem Licht", sagt die Managerin. Italiens bisher einzigen Börsengang in diesem Jahr wagte der Kaschmir-Mode-Produzent Brunello Cucinelli, einer, der sich bestens auf die Neuinterpretation von traditionsreichem Luxus versteht. Ihm rissen die Anleger im April die Aktien aus der Hand. Trotz der Schuldenkrisen-Kapriolen.

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