Pipers Welt:Zärtlichkeit der Völker

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"Grenzenlose Solidarität" war eine beliebte Parole bei den Protesten gegen G 20 in Hamburg, bei den friedlichen ebenso wie bei den gewalttätigen. Über den Missbrauch eines Begriffs.

Von Nikolaus Piper

Zu den vielen Parolen, die bei den Protesten gegen den G-20-Gipfel und den sie begleitenden Gewaltorgien zu lesen waren, gehörte auch diese: "Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker." Von "Zärtlichkeit" zu reden, wenn rundherum Molotowcocktails fliegen, mag merkwürdig erscheinen, aber der Satz hat Tradition. Er stammt wahrscheinlich von der nicaraguanischen Schriftstellerin Gioconda Belli, vielleicht auch von dem linken Priester Ernesto Cardenal. In der linken Szene wird das Zitat jedoch meist dem Arzt und Revolutionär Ernesto "Che" Guevara zugeschrieben. Ganz geklärt ist die Autorenschaft bis heute nicht, aber es sagt schon etwas aus, dass man internationale Solidarität lieber mit einem Mann verbindet, der versuchte, den Bürgerkrieg nach Bolivien zu bringen, als mit einer idealistischen Dichterin, die von der sandinistischen Revolution in ihrem Land tief enttäuscht ist.

Jedenfalls sind die Hamburger Krawalle ein guter Anlass, sich einmal genauer anzusehen, wie das schöne alte Wort "Solidarität" heutzutage ge- und missbraucht wird. "Grenzenlose Solidarität statt G20" hieß das Motto der Demonstration vom Samstag, an der angeblich 76 000 Menschen teilnahmen. Um "Solidarität" ging es auch, wenn Geld für festgenommene Randalierer gesammelt wurde. "Die #Repressionswelle wird gigantisch", twitterte jemand am Montag. "Ohne #Solidarität werden wir dem nicht gewachsen sein. Spendet an . . ." Dass im Umfeld der Gewalt besonders viel von "Solidarität" die Rede ist, scheint dabei System zu haben. Als im März 2015 Leute von "Blockupy" gegen die Eröffnung der neuen EZB-Zentrale protestierten und einige Teile Frankfurts kurz und klein schlugen, erklärten die Organisatoren, sie wollten ein Zeichen setzen, "dass ein solidarisches Leben möglich ist". Das Ergebnis waren 100 verletzte Polizisten. "Grenzenlose Solidarität" bedeutete - in Frankfurt damals ebenso wie in Hamburg heute - im Wesentlichen, dass Leute aus Italien, Schweden und anderswo zum Randalieren eingeladen wurden.

Eigentlich ist Solidarität ein sehr schöner und auch präziser Begriff. Er leitet sich aus dem lateinischen solidus (fest, beständig) ab und bezeichnete eine feste Verpflichtung mehrerer Menschen, zum Beispiel gegenseitig für Schulden einzustehen. Das klingt noch heute in der deutschen "Solidarhaftung" nach. Es war vor allem der französische Offizier und Frühsozialist Hippolyte Renaud (1803 bis 1874), der mit seinem Buch " Solidarité" politisierte und popularisierte, aber eben auch missbrauchbar machte. Renaud lehnte den Kommunismus ab, wollte am Privateigentum festhalten, seine Verteilung aber von Staats wegen korrigieren. Besonders in der jungen Arbeiterbewegung hatte sein Buch großen Einfluss.

Dabei blieb "Solidarität" vage genug, um den Begriff für fast jeden nutzbar zu machen. In Frankreich entstand eine Bewegung des "Solidarismus", deren Ziele ungefähr denen der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland entsprachen. Sozialdemokraten und Gewerkschaften sprachen von "Solidarität" und meinten damit, dass die Arbeiter gemeinsam für ihre Interessen eintreten oder dass sie Unterdrückten anderswo helfen sollten. Kommunisten redeten von "Solidarität", ihre Gegner auch. Als polnische Arbeiter 1981 mit der Befreiung vom Kommunismus begannen, nannten sie ihre Gewerkschaft "Solidarność". Das Pathos des Begriffs klang bereits in Bert Brechts "Solidaritätslied" von 1929 an ("Vorwärts und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht.")

Solidarität ist im Kern ein ökonomischer Begriff

Wahrscheinlich lädt gerade das Pathos zum Missbrauch ein. Man weiß nicht genau, was es heißt, es fühlt sich nur irgendwie gut an. "Internationale Solidarität" bedeutete in den 1970er-Jahren, dass Soldaten aus Kuba Bürgerkriege in Afrika anheizten. Heute bedeutet es, dass der Parteitag der Linken im Juni unter der Überschrift "Solidarität mit Venezuela" eine Resolution verabschiedete, in der sich die Partei hinter den Unterdrücker, Präsident Nicolás Maduro, stellte und das gewählte Parlament verdammte.

Es ist höchste Zeit, die "Solidarität" wieder vom Kopf auf die Beine zu stellen, konkret: sich der ökonomischen Wurzeln des Begriffs bewusst zu werden. Solidarität bedeutet, dass Menschen ökonomisch füreinander einstehen, und zwar ohne dass sich beim Einzelnen Leistung und Gegenleistung entsprechen müssen. Darum geht es und nichts anderes. Der "Solidarpakt Ost" trägt seinen Namen zu Recht, denn in ihm hat der Westen ohne definierte Gegenleistung dem Osten dabei geholfen, die Erblast des Sozialismus abzubauen. Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland ist ein solidarisches System, denn hier zahlt jeder entsprechend seinem Einkommen und bekommt unabhängig davon, was medizinisch notwendig ist (soweit die Ärzte das wissen). Dagegen ist die Rente kein solidarisches System, hier gilt das Äquivalenzprinzip: Je mehr man einzahlt, desto mehr bekommt man. Deshalb lässt sich auch Altersarmut nur außerhalb dieses Systems bekämpfen.

Ja und dann der Welthandel, um den es bei den G20 in Hamburg auch ging. Es stimmt, fair gehandelter Kaffee ist ein solidarisches Produkt, denn die Verbraucher zahlen dabei mehr, als sie müssten - ohne Gegenleistung (außer vielleicht einem guten Gewissen). Die Parole von der "grenzenlosen Solidarität" aber ist inhaltsleer. Was soll das heißen? Verteilung der Güter dieser Welt durch eine Welt-Planbehörde? Oder im Gegenteil Unterbindung des Handels mit Gütern, die einem nicht gefallen? Wer von Solidarität redet, muss immer auch sagen, aus wem die Solidargemeinschaft besteht.

Oder geht es eben doch nur um freie Einreise von Randalierern aus aller Herren Länder?

© SZ vom 14.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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