Italien:Volles Programm

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Ende April soll der italienische Staat erstmals Bürgergeld an Bedürftige zahlen. Doch das finden immer weniger gut.. (Foto: Stefano Rellandini/Reuters)

Regierungschef Renzi weiß, wonach die Unternehmer in Italien sich seit Jahren sehnen - weniger Bürokratie und weniger Steuern. Zwei Manager ziehen Bilanz: Einiges ist erreicht, noch mehr bleibt zu tun.

Von Ulrike Sauer, Rom

Vor dem Jahreswechsel 2013/14 bahnen sich in Italien große Neuigkeiten an. Auch bei Vetrya, einem Internetunternehmen aus Umbrien. Die Rezession hat das verzagte Land fest im Griff. In Orvieto aber ist die Stimmung auf der Weihnachtsfeier von Vetrya blendend. Die junge Firma erobert die Medien- und Telekommunikationsbranche mit digitalen Breitbanddiensten. Also kündigt Vetrya-Gründer Luca Tomassini seinen Mitarbeitern fürs kommende Jahr schon mal eine große Weihnachtsüberraschung an.

Es sind die Tage, in denen Matteo Renzi, der Bürgermeister von Florenz, eine radikale Umkehr fordert. Wenige Wochen später erringt der Sozialdemokrat in Rom die Macht. Renzi will das Land mit Reformen aus der Selbstblockade lösen. Cambiare verso, heißt Renzis Versprechen: Kurs, Methoden, Tempo - alles will er ändern, damit die Italiener im globalisierten Zeitalter wieder mithalten.

Der Reformer startet energisch. Dennoch: Ende 2014, als Tomassini sein Versprechen einlöst, ist der Niedergang der italienischen Wirtschaft nicht gestoppt. In Orvieto bezieht Vetrya am 19. Dezember sein neues Hauptquartier auf der Wiese - ein Firmencampus, der wie eine Miniaturausgabe der Google-Zentrale wirkt. Die Mitarbeiter sind verzückt: drinnen Kita, Fitnessstudios, Tischtennis, draußen Fußballplatz, Sonnenterrasse, Solarstrom-Tankstellen für Elektroautos.

Der Campus liegt am Gravitationsmittelpunkt der Apenninen-Halbinsel. Vetrya ist der Nabel Italiens. Man gewinnt hier einen guten Einblick in die Nöte des Mittelstands in Zeiten des forschen Renzi. "Die hohe Steuerlast bleibt das zentrale Problem Italiens", sagt Tomassini ohne zu zögern. Sie erschwere Auslandsinvestitionen und sie lasse immer noch viele Firmen sterben, obwohl die Regierung den Unternehmen erste Steuererleichterungen verschaffte und Reformen anschob. "In den beiden vergangenen Jahren wurde einiges erreicht", räumt der Hightech-Unternehmer ein.

An erster Stelle nennt er die Arbeitsmarktreform. Sie zeige tatsächlich Wirkung. Vom Umbau des schwerfälligen Staatsapparats aber hatte Tomassini, 50, viel mehr erwartet. Die digitale Revolution habe die Funktionsweise der Verwaltung grundlegend geändert. Doch die Chance, das für eine spürbaren Vereinfachung der Bürokratie zu nutzen, wurde vertan. "Die Reform greift nicht", sagt der frühere Innovationschef von Telecom Italia.

"Der Gaul säuft nicht, weil die Kandare einfach zu eng sitzt."

Das spiegelt sich auch im internationalen Vergleich wider. Italien bleibt in puncto Wettbewerbsfähigkeit Europas Schlusslicht. Immerhin schob sich das Land im globalen Ranking des Weltwirtschaftsforums 2015 um sechs Positionen auf Platz 43 nach vorn. Die seit 15 Jahren fallende Produktivität der italienischen Wirtschaft verharrte zuletzt auf niedrigem Niveau. Auch dafür machen die Forscher alte Verkrustungen verantwortlich, wie etwa die ausufernde Bürokratie. "Der Gaul säuft nicht, weil die Kandare einfach zu eng sitzt", sagt der frühere EZB-Direktor Lorenzo Bini Smaghi über die chronische Wachstumsschwäche seines Landes.

Tomassini weiß aus eigener Erfahrung, wie es im Ausland zugeht. 2014 gründete er einen Ableger in Palo Alto. Die Formalitäten erledigte er im Silicon Valley an einem Tag. "Abends konnte ich loslegen", sagt der Italiener. Am Hauptsitz in Umbrien wartete er ein Jahr auf den Gasanschluss. Wichtiger ist für Vetrya der Internetzugang. Die beantragte Glasfaserverbindung bekam Tomassini in Italien nicht, und so musste er seine Firma selbst an die Basisdatenleitung anschließen, die zum zentralen Netzknoten in Mailand führt. Sein Glück: Die Hauptader des italienischen Webs verläuft wenige hundert Meter an seinem Unternehmen vorbei. Doch das Breitbandnetz deckt erst 22,3 Prozent des Landes ab.

Auch der digitale Rückstand gehört zum schweren Erbe, das Renzi vor zwei Jahren antrat. Er ist einer missglückten Privatisierung der Telecom Italia vor 20 Jahren geschuldet. Finanzgetriebene Eigentümerwechsel luden dem Konzern hohe Schulden auf. Es fehlte fortan das Geld, die Datenautobahnen auszubauen. Noch heute blockiere dies auch indirekte Investitionen, etwa ins Kabelfernsehen oder in die Cloud, moniert Tomassini. Eine günstige Ausgangslage im Wettlauf um die Industrie 4.0 ist das nicht. Auf die vollmundigen Ankündigungen Renzis, die Verspätung bis 2020 wettzumachen, gibt man bei Vetrya nicht viel.

Annibale Pancrazio treiben ganz andere Sorgen um. Der Konservenhersteller aus Cava de' Tirreni, an der Pforte der süditalienischen Amalfiküste gelegen, freute sich 2014 über den Regierungswechsel. "Da traten Pragmatiker an, die sich für die Belange der Unternehmen interessierten", sagt er. Pancrazio nutzte Renzis Jobs Act, um die befristeten Arbeitsverhältnisse von sechs Mitarbeitern in Festanstellungen umzuwandeln. In Cava de' Tirreni in Kampanien, wo die Arbeitslosenrate über 21 Prozent liegt, fühlten sich jetzt sechs Familien sicherer, sagt er.

"Die Privatwirtschaft schleppt den Brocken des öffentlichen Dienstes mit sich herum."

Der Süditaliener kämpft mit seinen Dosen hochwertiger Tomaten und Hülsenfrüchte gegen die Billigkonkurrenz auf dem Weltmarkt an. Das 1930 gegründete Familienunternehmen exportiert 90 Prozent seiner Markenprodukte in 40 Länder. Pancrazio ist gerade aus Australien zurückgekehrt, wo er eine Woche lang für Italiens "Rotes Gold" geworben hat. Er muss sich dort gegen Wettbewerber durchsetzen, die ihre Tomaten zu Dumpingpreisen losschlagen. Oft suggerieren Fähnchen und italienisch klingende Fantasienamen fälschlicherweise eine Herkunft aus dem Land der mediterranen Feinschmecker. Unterstützung von der Agentur für Außenhandel kann der Mittelständler in der Ferne kaum erwarten. "Die haben in Ozeanien drei Leute für einen ganzen Kontinent!", schnaubt Pancrazio.

Dass sich die neue Regierung nun für die Internationalisierung der Unternehmen mächtig ins Zeug legt, rechnet er Renzi hoch an. Doch zugleich beobachtet der Unternehmer mit Argwohn, dass die Politiker in Rom nicht von ihren Machtspielchen lassen. "Auch die Neuen haben sich vom alten Parteiendenken nicht gelöst", meint er.

Pancrazio steht im eleganten Regenmantel auf dem Messegelände in Parma, wo sich die Lebensmittelhersteller zu ihrer Jahresversammlung treffen. "Vor genau einem Jahr versprach Renzi, die Nahrungsbranche in den Mittelpunkt zu rücken", sagt Verbandspräsident Luigi Scordamaglia. "Heute müssen wir anerkennen, dass dies geschehen ist." Dafür hat die Regierung der zweitgrößten Branche des Landes ein ehrgeiziges Wachstumsziel gesteckt: Bis 2020 soll Italiens Kulinarik-Export von 36 auf 50 Milliarden Euro gesteigert werden. Dazu legte man in Rom erstmals gezielte Förderprogramme auf.

Was bringt aber die Weltmarktoffensive, wenn sich zu Hause nichts ändert? Pancrazio stöhnt: "Wir arbeiten in einem Land mit zwei Geschwindigkeiten." Beim Staat sei um 14 Uhr Schicht, die Unternehmen müssten ständig am Ball sein. "Die Privatwirtschaft schleppt den Brocken des öffentlichen Dienstes mit sich herum", klagt er. Jedes Unternehmen stelle ein Familienmitglied fürs Schlangestehen ab.

Blickt man bei Vetrya vom Bildschirm auf, sieht man Orvieto mit dem gotischen Dom oben auf dem Tuffsteinfelsen thronen. Im Untergrund der Stadt führt eine doppelte Spiraltreppe 54 Meter in die Tiefe zum Brunnen von San Patrizio, ein spektakuläres Meisterwerk der hydraulischen Ingenieurkunst des 16. Jahrhunderts. Für außerordentliche Anstrengungen gibt es in Italien ein Sprichwort: "Das ist wie den Brunnen von San Patrizio zu graben." Es trifft Renzis Kampf um die Entfesselung der Wachstumskräfte ausgezeichnet. Im ersten Quartal stieg Italiens Wirtschaftsleistung 2016 um 0,3 Prozent - halb so viel wie bei den europäischen Nachbarn.

© SZ vom 19.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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