Großbritannien:Abgehängt

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Ein Zug auf der Transpennine-Bahnstrecke in Nordengland: Die Verbindung ist nicht elektrifiziert, nur langsame Dieselzüge fahren. (Foto: Alamy/mauritius images)

Die Bahnstrecken im Norden Englands sind oft altertümlich. Ex-Premier Cameron versprach Investitionen, doch seine Nachfolgerin rückt von den Plänen ab.

Von Björn Finke, London

Wer mit der Bahn von London in den Norden Englands fährt, etwa nach Newcastle an der Nordseeküste oder nach Liverpool an der Irischen See, steigt in moderne Züge ein, ganz ähnlich den deutschen ICE. Doch einmal im Norden angekommen, ändert sich das Bild an den Bahnsteigen. Zwischen den Städten dort zuckeln oft kurze Passagierzüge, die von Dieselloks gezogen werden: Die Strecken sind noch nicht elektrifiziert, schnelle und lange Züge können deswegen nicht fahren. Die britische Regierung hatte unter Premier David Cameron, Theresa Mays Vorgänger, hohe Investitionen in das völlig veraltete Bahnnetz im Norden versprochen, aber Chris Grayling, Mays Verkehrsminister, stellt diese in Frage.

Das empört Politiker und Wirtschaftsvertreter im Norden Englands. In einem offenen Brief fordert Business North, eine Lobbygruppe von Unternehmern in der Region, dass Grayling die Vernachlässigung der Infrastruktur im Norden beenden solle. Und George Osborne, früher Schatzkanzler unter Cameron, nun Chefredakteur einer Londoner Gratiszeitung, verlangt in einem Gastbeitrag in der Financial Times eine Schnellzugverbindung quer durch Nord-England, von Liverpool nach Hull an der Nordseeküste. "Diese neue Verbindung würde die Wirtschaft im Norden verwandeln", schreibt der Konservative.

Der Norden des Landes hat sich nicht vom Kollaps der Minen und Stahlhütten erholt

Als Minister erfand er den Begriff Northern Powerhouse, Kraftwerk im Norden. Dies war der Name des ehrgeizigen Plans von Osborne und Cameron, den industriell geprägten Norden Englands langfristig in ein boomendes Wirtschaftszentrum zu verwandeln: auch mit Hilfe staatlicher Milliardeninvestitionen, etwa ins Schienennetz. Die Politiker wollten so das riesige Gefälle zwischen dem prosperierenden Großraum London und den abgehängten Regionen mildern. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf beträgt in der Kapitale 43 629 Pfund, im Nordosten Englands sind es hingegen nur 18 927 Pfund und im Durchschnitt des Königreichs 25 351 Pfund, rechnet die britische Statistikbehörde ONS vor.

London ist das Finanzzentrum des Kontinents; Technologiekonzerne wie Google oder Amazon investieren ebenfalls kräftig in der 8,8-Millionen-Stadt, die Studenten, Fachkräfte und Gründer aus der ganzen Welt anzieht. Regionen wie Nord-England dagegen haben sich bis heute nicht vom Kollaps der Minen, Werften und Stahlhütten erholt.

Nachdem die neue Premierministerin May ihren alten Feind Osborne vor einem Jahr schnöde gefeuert hatte, war von der Kraftwerks-Idee lange nicht viel zu hören. In dieser Woche - kurz nach Osbornes Intervention - sprach May bei einem Besuch im Nordosten Englands aber wieder von dem Kraftwerk, versehen mit der bedeutenden Ergänzung, dass ihre Aufmerksamkeit nicht nur Nord-England gelte, sondern genauso anderen benachteiligten Regionen.

Schon kurz nach ihrem Amtsantritt hatte May gesagt, dass der Sieg des Brexit-Lagers im Referendum nicht nur mit Unzufriedenheit über die EU zusammenhänge, sondern auch damit, dass sich viele Briten abgehängt fühlten und nicht vom Wirtschaftsaufschwung profitiert hätten. Sie wolle dieses Problem angehen.

Investitionen in das veraltete Bahnnetz wirtschaftsschwacher Regionen passen da prima. Dass ihr Verkehrsminister die Elektrifizierung wichtiger Strecken trotzdem in Frage stellt, hat mit dem lieben Geld zu tun. Der Staatshaushalt ist im Minus, und Experten erwarten, dass die Unsicherheit wegen des Brexit die Konjunktur und somit die Steuereinnahmen belasten wird. In solchen Zeiten muss jeder Minister ganz genau auf die Ausgaben schauen.

Allerdings kam es im Norden äußerst schlecht an, dass Minister Grayling kurz nach seiner Abfuhr für die Elektrifizierung ein anderes teures Projekt unterstützte - ausgerechnet in London. Der Staat wird sich am Bau neuer Nahverkehrs-Strecken in der Hauptstadt beteiligen. Das Vorhaben heißt Crossrail 2 und kostet schlappe 31 Milliarden Pfund. Die Vorort-Züge sollen durch 42 Kilometer lange Tunnelabschnitte quer durch die Stadt fahren. Ein Endpunkt von Crossrail 2 ist die Gemeinde Epsom im Südwesten Londons: zufällig der Wahlkreis des Verkehrsministers.

Dabei sind die Investitionen pro Kopf in Verkehrsinfrastruktur schon jetzt in London fast fünfmal so hoch wie in Nord-England, wie das Forschungsinstitut IPPR North ermittelt hat. Ein anderes teures Projekt ist HS2, High Speed Two. Hier baut der Staat eine Schnellzugstrecke zwischen London und Birmingham; die Kosten sollen 55,7 Milliarden Pfund betragen, allerdings erwarten Fachleute, dass das Budget deutlich überschritten wird.

Es ist also reichlich Geld da für ehrgeizige Bahnprojekte. Aber offenbar nicht für solche im abgehängten Norden.

© SZ vom 25.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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