Gewerkschaften:Oben bleiben

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Zwischen die Räder gekommen: Charlie Chaplin im Film "Modern Times". (Foto: Janus Films)

Die IG Metall bekommt im Oktober einen neuen Chef. Jörg Hofmann muss dafür sorgen, dass in der digitalen Wirtschaft keiner unter die Räder kommt.

Von Alexandra Borchardt, Detlef Esslinger und Alexander Hagelüken, Berlin/München

Es gibt eine Zeit zu streiten und eine Zeit, nett zueinander zu sein. Am Freitag war eindeutig Nettigkeit gefragt; was soll man ruppig umgehen mit Arbeitgebern, die zu einem 125-jährigen Jubiläum ausgerechnet ins Berliner Ensemble eingeladen haben, in das Theater Bertolt Brechts? Also steht Detlef Wetzel, der Vorsitzende der IG Metall, auf der Bühne, und erheitert die Unternehmer des Verbands Gesamtmetall mit Sinnsprüchen über Tarifrunden. Warum ziehen die sich immer bis tief in die Nacht? Wetzel sagt, erstens: "Ein guter Tarifvertrag scheut das Tageslicht." Und er schließe nicht aus, zweitens, "dass ein Ergebnis auch durch Erschöpfung zustande kommt".

Das ist die Kunst, die ein Gewerkschaftsvorsitzender drauf haben muss: zu wissen, wie viel Konfrontation möglich und von wann an spätestens Kooperation nötig ist. Und auch: wann man in welchen Modus schalten muss. Detlef Wetzel, 62, der das kann, hört im Oktober auf. Aber: Jörg Hofmann, 59, der folgen soll, kann es auch. Knapp 2,3 Millionen Mitglieder hat die Gewerkschaft, sie ist nach wie vor die größte der Welt, wenn man von den chinesischen Pseudo-Organisationen absieht. Geeignetes Personal für die Spitze zu finden, ist ihr geringstes Problem. Wetzel mag nicht der allergrößte Redner auf Kundgebungen zum 1. Mai gewesen sein, das war schon sein Vorgänger Berthold Huber nicht. Und auch Hofmann, der selbst gemessen an sonstigen Schwaben ein außerordentlich heftiges Schwäbisch spricht, ist dies erst recht nicht. Frühere Chefs wie Jürgen Peters und Franz Steinkühler waren andere Kaliber. Aber werden solche Klassenkämpfer überhaupt noch gebraucht? Vielleicht nicht. Vielleicht haben die Leise auch ihre Vorzüge. Und vielleicht passen diese Vorzüge sogar besser in die neue Zeit. Zum Beispiel IG-Metallchef Huber. Er hat, so schildert es ein Funktionär, in der Finanzkrise 2008/2009 auf die Bundesregierung eingewirkt und sich mit den Arbeitgebern zusammengetan, um Massenentlassungen zu verhindern - zu denen es dank Kurzarbeit und Abwrackprämie auch nicht kam: "Gerade weil er so moderat auftrat, erreichte er mehr als jene, die laut sind." Über den Nachfolger Hofmann heißt es, er falle durch Flexibilität auf. Es war Hofmann, der vor elf Jahren das berühmte Pforzheimer Abkommen aushandelte. Seitdem können Firmen kurzzeitig vom Tarifvertrag abweichen, wenn sie in Not geraten. Und es war vor allem Hofmann, der in der zurückliegenden Tarifrunde die Einführung einer Bildungsteilzeit betrieb - dieser IG Metall geht es zwar immer noch darum, Lohnerhöhungen durchzusetzen. Aber sie weiß auch, dass die notwendig, aber nicht hinreichend sind.

Kaum jemand geht noch aus Tradition zur Gewerkschaft - sie muss etwas zu bieten haben

Andere Zeiten verlangen andere Gewerkschafter. Früher trat man der Organisation bei, weil sich das so gehörte oder weil man politisch irgendwie beseelt war. Die Menge derjenigen Arbeitnehmer, die heute noch dieses Motiv hat, "ist jedoch recht übersichtlich", wie ein Vorstandsmitglied sagt. Heute fragen sich viele Menschen: Was hab' ich davon, wenn ich dort eintrete? Also reicht es nicht mehr, mit rotem Kopf rote Parolen zu Gehör zu bringen. Oder pauschal so etwas wie die 35-Stunden-Woche durchzudrücken. Bei der IG Metall sind die Fragen: Was können wir konkret für junge Menschen tun? Und für Büromenschen? Und für Frauen?

Vielleicht noch auffälliger als die Personalie Hofmann ist daher eine zweite: der Vorschlag, eine Frau zur Zweiten Vorsitzenden zu machen - zum ersten Mal überhaupt. Christiane Benner, 47, wird im Oktober wohl weit nach oben rücken in einer Organisation, in der vier von fünf Mitgliedern Männer sind. Wer wissen will, wie hart das für die Funktionäre wird, der hört zur Antwort, dass ja auch ein Drittel der IG-Metall-Mitarbeiter inzwischen Frauen seien - und die Gewerkschaft auch ihre Aufsichtsratsmandate zu einem Drittel mit Frauen besetze.

Benners Nominierung zeigt aber sehr deutlich, worauf es der IG Metall heute ankommen muss. "Zielgruppenarbeit und Gleichstellung - Angestellte, Frauen, Jugend, Migrant/innen" lautet ihr bisheriges Vorstandsressort, da schwingt Zukunft mit. Was sich dahinter verbirgt, ist weniger glamourös: jene Gruppen, mit denen sich Gewerkschaften besonders schwertun, flapsig könnte man sagen, bei denen sie keine Sonne sehen: IT-Beschäftigte, Studierende, Frauen und Migranten, also all jene, die üblicherweise erst überzeugt werden müssen, dass sich eine Gewerkschaft lohnt. Könnte sein, dass da jemand sagt: Wer da Zug hereinbekommt, der kann noch mehr. Die Zahl der unter 27-Jährigen ist in den vergangenen vier Jahren um 26 000 auf 230 000 gestiegen. Und 312 000 IG-Metall-Mitglieder sind nun Angestellte, ein Plus von 31 000. Frauen allerdings bleiben die schwierigste Klientel: 402 000 Mitglieder zwar, aber nur 6000 mehr als vor vier Jahren.

Den digital vernetzten Einzelkämpfern sind Werte wie Solidarität fremd

"Eine bessere digitale Welt ist möglich." Mit dieser These tritt Benner an. Diese Welt ist schwieriges Gebiet für Gewerkschaftsfunktionäre, denn sie ist geprägt von digital vernetzten Einzelkämpfern, denen die Prinzipien einer Gewerkschaft - Gruppe, Disziplin, Solidarität - fremd sind. Benner will dieser Generation klarmachen, dass man stärker ist, wenn nicht jeder alleine um ein kleines Stück vom Kuchen kämpft. In der digitalen Welt beobachtet sie neben Chancen auch, was sie eine "Amazonisierung der Arbeitswelt" nennt: Beschäftigte verdingen sich ohne Schutz zu miserablen Konditionen, manchmal für drei oder fünf Euro die Stunde - und stehen im Wettbewerb mit jenen, die für immer weniger Geld arbeiten. IZA-Chef Zimmermann sieht diese Art der Selbständigkeit sogar zur dominanten Arbeitsform werden. Liegt er damit richtig, werden sich auch in der IG Metall viele noch wundern. Der Betrieb als physischer Ort wäre dann zu Ende, und damit auch jener Ort, an dem bisher noch jede Gewerkschaft ihren Kern hatte.

Aber die digitalen Selbständigen sind nur eine von mehreren Herausforderungen. Jürgen Wechsler, IG-Metall-Bezirksleiter in Bayern, zählt noch andere Themen auf: Die industrielle Wertschöpfung werde immer weiter zersplittert, indem Firmen gerade in der Autoindustrie Arbeit auslagerten: "Werk- und Dienstverträge sind inzwischen ein größeres Problem als Leiharbeit". Und dann ist da die Veränderung der klassischen Arbeitsplätze: Was bedeutet es für Arbeitszeit und Arbeitsschutz, wenn jemand von zu Hause arbeitet? Und wie können Arbeitsplätze so gestaltet werden, dass Arbeitnehmer wirklich bis zur Rente durchhalten?

Es gibt ja immer noch einen Gegensatz zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern. Erstere sehen in der digitalen Welt vor allem die Chancen. Rainer Dulger, der Präsident des Branchenverbands der Metallindustrie, sagte am Freitag: "Vielleicht werden wir in ein paar Jahren Organe mit Hilfe von 3-D-Druckern replizieren können." Die IG Metall hat vorerst eine andere Perspektive, wie es einer ihrer führenden Repräsentanten ausdrückt: "Wir müssen vor allem aufpassen, dass die Arbeitnehmer nicht unter die Räder kommen."

© SZ vom 13.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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