Gewerkschaften:Der Vorrang des Menschen

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Tag der Arbeit, Tag der Abrechnung: Gerade mal jeder fünfte Erwerbstätige ist Mitglied einer Gewerkschaft - dabei sind die Arbeitnehmervertretungen die am meisten unter Wert gehandelten Organisationen überhaupt.

Detlef Esslinger

Manchmal verschickt jemand eine Botschaft und merkt nicht, was er eigentlich mitteilt. Die Mail, von der hier die Rede sein soll, ging an mehrere Filialleiter einer großen privaten Bank. Der Verfasser, ein Vorgesetzter aus dem mittleren Management, befasste sich damit, dass die Berater die Verkaufsvorgaben nicht erfüllt haben, weder bei Kredit- noch bei Versicherungsverträgen. "Verwunderlich, dass wir immer noch sechs Filialen unter 100 Prozent haben", fängt dieser Chef also an. Und fügt hinzu: "Zu bemerken ist auch, dass keine Filiale bisher die 200 Prozent erreicht hat."

Schneller, höher, weiter - im übertragenen Sinn: Früher sollten Angestellte ihre Arbeit zu 100 Prozent schaffen, jetzt müssen es 200 Prozent sein, demnächst wahrscheinlich 300. Das Foto zeigt einen Bauarbeiter in Berlin. (Foto: Foto: ddp)

Es ist dies ein Satz, der nicht bloß die Verrücktheiten irgendeines Managers skizziert. Auch ist er nicht allein für die Bankenbranche exemplarisch, obwohl er natürlich die allgemeine Meinung gerade über diese Branche hinreißend zu illustrieren scheint. Im Grunde aber handelt es sich um einen Satz, der das ganze Elend des Kapitalismus zusammenfasst, zumindest dessen hässliche und verhängnisvolle Seite.

Es geht in diesem Wirtschaftsregime schon lange nicht mehr darum, Bedürfnisse zu befriedigen und Wohlstand zu gewährleisten. Deutschland gehört zu jenen Gegenden der Welt, in denen der Kapitalismus dies in den vergangenen hundert Jahren erreicht hat, allerdings um den Preis, dass der Planet fast geplündert ist.

Das Bedrückende am Kapitalismus besteht doch darin, dass er sich längst nicht mehr als Mittel, sondern als Zweck begreift. Der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde nennt ihn ein "Handlungssystem", ein System, das mittlerweile jedes menschliche Handeln bestimmt und das kein Maß mehr kennt - sondern nur auf die unbegrenzte Ausdehnung seiner selbst gerichtet ist.

Es ist ein System, das Menschen nicht mehr als Personen in ihrer Ganzheit sieht. Nur noch deren Funktionen nimmt es wahr. Früher sollten sie ihre Arbeit zu 100 Prozent schaffen, jetzt müssen es 200 Prozent sein, demnächst wahrscheinlich 300, und immer so weiter. "Wir gehen vor!", ist nun das Motto, mit dem der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zu seinen Maikundgebungen ruft. Es hört sich trotzig und auch ein bisschen hilflos an.

Gewerkschaften gelten nicht wirklich als chic. Egal wie die Marktplätze an diesem Samstag gefüllt sein mögen: Die allermeisten Menschen dürften die Teilnahme an der Maikundgebung ungefähr so ernsthaft erwägen wie den Gedanken, am Buß- und Bettag büßen und beten zu gehen. Schön finden die Leute den 1. Mai, weil er überall ein Feiertag ist, anders als dieser protestantische Mittwoch im November.

6,3 Millionen Menschen gehören einer der acht DGB-Gewerkschaften an, insgesamt sind es rund acht Millionen, die sich in Deutschland einer Arbeitnehmer-Organisation angeschlossen haben. Das sind einerseits weitaus mehr, als alle Bundestagsparteien zusammengenommen haben; andererseits bedeutet die Zahl: Gerade mal jeder fünfte Erwerbstätige gehört einer Gewerkschaft an. Manche treten nicht ein, weil sie auch so von all den Tarifverträgen profitieren. Andere haben über diese Frage noch nie nachgedacht, wiederum andere erhalten für ihre Arbeit so wenig Geld, dass sie sich selbst den Verdi-Beitrag nicht leisten können, und dann wiederum gibt es Menschen, denen ist das Lebensgefühl, das Gewerkschafter gelegentlich ausstrahlen, zu fremd.

Wahrscheinlich aber sind Gewerkschaften die am meisten unter Wert gehandelten Organisationen überhaupt. Welche Bedeutung sie tatsächlich haben, ist immer dort zu erkennen, wo es sie nicht gibt - in Ländern wie in Branchen: In den einen wie in den anderen geht es dann relativ diktatorisch zu. Nicht als Personen, sondern als bloße Funktionsträger wahrgenommen werden die Menschen besonders dort, wo sie nicht in Gewerkschaften organisiert sind und sich folglich nicht wehren können. Klassische Beispiele dafür sind Friseurinnen und Wachangestellte, aber auch bei den Bankberatern ist es nicht viel besser. Könnten Zumutungen wie 200-Prozent-Ziele nicht auch damit zu tun haben, dass Verdi in einem eventuellen Arbeitskampf in der Bankenbranche nur auf jeden Siebten zurückgreifen könnte?

Berthold Huber, der Chef der IG Metall, hat gerade ein Buch geschrieben, in dem er sich gegen den Kapitalismus als Handlungssystem wehrt. Er formuliert darin ein paar Sätze, die im positiven Sinne banal sind: dass die Wirtschaft nicht dazu da ist, möglichst hohe Renditen zu erzielen, sondern den Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen (wie auch immer man dies definiert). Dass Freiheit bedeutet, Menschen in die Lage zu versetzen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Und dass Menschen sich erniedrigen, wenn sie Vorgaben machen oder befolgen aus nur diesem einen Grund: Sachzwang. Die Ausbeutung des Planeten geht ja einher mit der Ausbeutung der Menschen, beides ist die Folge eines zum Zweck gewordenen Kapitalismus. Sie bemerken nur noch nicht, dass der Zweit- oder Drittwagen auch bezahlt wird mit den Magenschmerzen, der Schlaflosigkeit und der Angst vor dem Rausschmiss, sollte man in dem Wahnsinn zwischen Montag und Freitag nicht bestehen.

Huber ist einer jener Gewerkschafter, die ebenso intellektuell wie tatkräftig sind. Wäre so etwas üblich am 1. Mai, könnten zumindest die Arbeiter in der Autoindustrie und bei Siemens eine Kerze anzünden für den IG-Metall-Vorsitzenden Huber; so viele Arbeitsplätze hat der Mann mit der Abwrackprämie und seinem Krisenmanagement in der Korruptionsaffäre gerettet. Natürlich überzeugen längst nicht alle Antworten, die er und seine Kollegen geben. Bei der Abwrackprämie bleibt die Frage, ob die Unternehmen wirklich die Zeit genutzt haben, die ihnen mit diesem Instrument erkauft wurde. Und wenn Gewerkschafter gegen die Schuldenbremse wettern, verlangen sie im Grunde Umverteilungspolitik zugunsten derer, die so gar nicht zu ihrer Klientel gehören: Die Gläubiger eines jeden Finanzministers sind in der Regel die Begüterten. Leiharbeiter kaufen keine Staatsanleihen.

Aber auf die Antworten kommt es nicht immer an. Es waren in der Geschichte der Industriegesellschaft oft Gewerkschafter, die die richtigen Fragen gestellt und sich nicht von Sachzwängen haben einschüchtern lassen. Vielleicht liegt dies daran, dass das Wesen von Gewerkschaftsarbeit die konkrete Arbeit für Menschen ist - dass sie nicht an irgendwelchen Kennziffern gemessen werden, die sie abliefern müssten.

Berthold Huber äußert eine kühne Utopie: dass künftig nicht zuerst am Lohn, sondern ernsthaft an Ressourcen gespart wird. Dass Produkte dem Käufer nützen "und wenigstens Dritten und der Gesellschaft nicht schaden". Es ist die Utopie eines Kapitalismus, der wieder vom Zweck zum Mittel würde. Die Industriegesellschaft mag davon noch so weit entfernt sein wie der Vatikan vom verheirateten Papst. Aber damit fängt immer alles an: dass da Menschen sind, die es sich leisten können, die richtigen Fragen zu stellen.

© SZ vom 30.04./01./02.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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