Gaza:Stadt der tausend Tunnel

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Illustration: Stefan Dimitrov / Süddeutsche Zeitung (Foto: N/A)

In Rafah haben viele am Schmuggel verdient, die Stadt war Umschlagplatz für Autos, Zement oder auch Bräute. Nun riegelt Ägypten die Grenze ab.

Von Peter Münch

Drüben hinter der Grenzmauer sind die Bulldozer am Werk. Neben dem Wachturm mit der ägyptischen Flagge werden riesige Erdmassen bewegt. Die Wohnhäuser, die hier einst standen, sind längst eingeebnet. Nun wird der Graben vertieft, der all die Tunnel quert, und die Pumpen werden installiert, die alles fluten sollen. Von einem aufgeworfenen Erdhaufen auf der palästinensischen Seite aus beobachtet ein junger Mann das Geschehen. Sein Name ist Naim, der Nachname soll aus Sicherheitsgründen nicht preisgegeben werden. Gegen die Kälte, die hier jedem in die Knochen kriecht, trägt er eine Winterjacke, "Best man" steht darauf in großen Lettern. "Das ist ein Desaster ", sagt er, "wir können hier nicht mehr überleben."

Rafah leidet - und wenn Rafah leidet, geht es dem ganzen Gazastreifen schlecht. Die Grenzstadt zu Ägypten war über Jahre der Hauptumschlagplatz für fast alles, was die knapp zwei Millionen Bewohner des palästinensischen Küstenstreifens zum Leben brauchten. Die israelische Blockade, mit der die Regierung in Jerusalem das Regime der islamistischen Hamas in die Knie zwingen will, wurde hier unterlaufen durch ein weitverzweigtes Tunnelsystem.

Ägyptens neuer Präsident ließ die Tunnel fluten. Mit Abwasser, teils auch mit Giftgas

Die Bewohner von Rafah buddelten unter ihren Häusern wie die Maulwürfe, und alles wurde durchgeschleust: Autos und Benzin, Lebensmittel und Zement, Bräute für die Männer in Gaza, Waffen für die Hamas und Tiere für den Zoo. Dass einst auch eine Giraffe durch einen Tunnel geschmuggelt worden sei, darf als Legende gelten, Löwen aber sind bezeugt. 1200 Tunnel haben hier das lehmige Erdreich perforiert. "Heute sind vielleicht noch fünf in Betrieb", sagt Naim und schnauft verächtlich.

Naim ist einer von denen, die durch die Tunnel reich geworden sind. Seine Familie zählt zu den Großen im Schmuggelgeschäft, nun aber sieht er alles bedroht durch die verdammte Politik. "Die beste Zeit war zwischen 2007 und 2012", sagt er. 2007 hatte Israel die Blockade verhängt, die dem Schmuggel zur Blüte verhalf. 2013 aber wurde in Ägypten Präsident Mohammed Mursi von General Abdel Fattah al-Sisi von der Macht geputscht. Der neue Präsident bekämpft seither nicht nur die Muslimbrüder im eigenen Land, sondern auch die Hamas im Gazastreifen, weil er sie für Verbündete der ägyptischen Islamisten und der Rebellen auf dem Sinai hält.

Das deutlichste Zeichen dieses Kampfes hat al-Sisi in Rafah gesetzt. Die Grenze, die über Jahre den einzigen Ausweg aus dem Elend bot, wurde geschlossen. Nur selten wird sie geöffnet für ein paar Glückliche, die aus humanitären Gründen den Gazastreifen verlassen dürfen.

Ansonsten aber ist das schwarze Gitter, hinter dem nur noch ein einsamer Grenzposten Wache schiebt, fest verriegelt.

Drastischer noch als die Grenzschließung wirkt sich jedoch al-Sisis Kampf gegen die Tunnel aus. Auf der ägyptischen Seite der Grenze - dort, wo die Ausgänge liegen - ließ er eine mehrere hundert Meter breite Pufferzone einrichten. Naim hat Verwandte drüben in Ägypten. "Sie haben alle ihre Häuser verloren", sagt er.

"Einige sind wenigstens entschädigt worden, aber es war viel zu wenig. Heute leben sie in Al-Arisch oder in Kairo." Doch das war erst der Anfang von Sisis Feldzug.

Nach den Häusern nahm er sich den Untergrund vor. Manche Tunnel wurden gesprengt, andere mit Abwasser geflutet, und bisweilen wurden sogar giftige Gase eingeleitet. Nun läuft bereits die zweite Phase des Masterplans zur Zerstörung der illegalen Lebensadern des Gazastreifen: der Bau eines elf Kilometer langen Grabens entlang der Grenze, der mit Salzwasser aus dem Meer gefüllt wird. Dies soll endgültig alle Tunnel zerstören.

Die hohe Dichte an Mercedes-Limousinen zeugt von alten Goldgräber-Zeiten

Das Salzwasser, so warnen Umweltschützer, werde nicht nur die Tunnel fluten, sondern auch ins Grundwasser eindringen. Die Folge: Pflanzen werden zerstört, die Bauern leiden, und das ohnehin knappe Trinkwasser im Gazastreifen wird noch weiter verschmutzt. Überdies fürchten die Bewohner von Rafah, dass irgendwann ihre Häuser kollabieren könnten, wenn die darunter gegrabenen Tunnel einstürzen. Und die Polizisten, die an der Grenze auf palästinensischer Seite das Geschehen drüben in Ägypten beobachten, trauen sich schon kaum noch aus ihrer Wellblechhütte. "Wir haben Angst, dass bei einer Patrouille der Boden unter uns zusammenbricht, weil doch die ganze Erde vollgesogen ist mit Wasser.

All das vergrößert noch die Depression, die sich in Rafah breitmacht. Von den alten Goldgräber-Zeiten zeugt noch die hohe Dichte an Mercedes-Limousinen, die hier auf der Straße zu sehen sind. Paläste mit Säulen-Portalen und blaugetönten Scheiben ragen in den Himmel, die Cafes sind holzvertäfelt und der "Riva Gym" wirbt um die neureichen Kunden. Fast alle hatten hier einst verdient am Schmuggel: Die Tunnelbetreiber sind zu Millionären geworden, für die einfachen Arbeiter waren Tageslöhne von umgerechnet zehn Euro wie ein kleines Vermögen, und die Hamas konnte mit den auf alle Schmuggelgüter aufgeschlagenen Steuern ihr Regime stabilisieren. Aber das ist nun passé.

"Wir haben jetzt 90 Prozent Arbeitslose in Rafah, die sitzen alle zu Hause", sagt Naim. Hart getroffen hat es auch die Geschäfte rund um den zentralen Al-Nigema-Platz, der in seiner Mitte von einer zum Kunstwerk veredelten Kassam-Rakete geschmückt wird. Früher schlug dort das Herz des Handels, wer 200 Kühlschränke brauchte oder ein paar Paletten mit Cola-Dosen, der war hier richtig. Heute drehen Eselskarren ihre Runde, die Männer sitzen mit der Wasserpfeife gelangweilt vor ihren Läden, und die Bauern aus der Umgebung bieten Eier und Gemüse feil.

Die Lastwagen, die nun von Zeit zu Zeit hier durchbrettern, bringen keine Schmuggelgüter mehr, sondern Waren aus Israel. Allein an diesem Tropf aus dem Feindesland hängt nun der ganze Gazastreifen, alle Einfuhren laufen über den festungsartig gesicherten Grenzübergang Kerem Schalom. "Im Oktober kamen durchschnittlich 250 Lastwagen am Tag", sagt ein palästinensischer Grenzposten. "Mittlerweile sind es schon bis zu 400." Im Niemandsland werden die Güter umgeladen von den israelischen auf die palästinensischen Laster. Mangel herrscht deshalb keiner im Gazastreifen. Doch Israel allein bestimmt, was eingeführt werden darf und was nicht. Daher kommt der Wiederaufbau nach dem jüngsten Krieg im Sommer 2014 wegen eines Mangels an Baumaterial nur schleppend voran. Überdies sind die Preise explodiert, weil statt der Schmuggelware nun Güter auf den Markt kommen, die gleich dreimal mit Steuern und Zöllen belegt werden - von Israel, von der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah und von der Hamas im Gazastreifen. Kein Wunder also, dass sich Tunnel-Betreiber wie Naim weiter an ihr Geschäft klammern. Vom Erdhügel aus, auf dem er Ausschau hält nach Ägypten, zeigt er auf eine ausladende Zeltplane, die noch auf palästinensischem Boden steht. "Da bauen wir einen neuen Tunnel, einsturzsicher", sagt er. "Das kostet 270 000 Dollar, und keiner weiß, ob wir das jemals wieder reinholen." Den Ägyptern aber will er sich nicht beugen. "Wir lassen uns auf jedes Rennen ein", kündigt er an, "und wenn sie die Pufferzone drei Kilometer breit machen, dann bauen wir unsere Tunnel eben noch länger."

© SZ vom 02.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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