Forum:Milchkrisen verhindern

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Molkereigenossenschaften sollten nur so viele Liter annehmen, wie sie höherwertig vermarkten können.

Von Sebastian Hess und Uwe Latacz-Lohmann

Europa durchlebt seine zweite Milchkrise. Sie erweist sich im Vergleich zur ersten im Jahr 2009 als länger und tiefer. Schon damals, als die Milchquote noch europaweit die Produktion begrenzte, kippten Bauern ihre Milch den Brüsseler Agrarpolitikern vor die Tür oder versprühten sie medienwirksam auf den Feldern.

Im Jahr 2016 häufen sich nun auch krisenbedingte Konkurse von Milchviehbetrieben - ein Phänomen, das die Gemüter bewegt. Dass Landwirte für ihre Milch einen Preis erhalten, von dem sie nicht leben können, empfinden viele als unfair. Dementsprechend hoch ist der Druck auf die Politik, gut eineinhalb Jahre nach Abschaffung der europäischen Milchquote wieder für eine kontrollierte Rückführung der produzierten Milchmenge zu sorgen.

Weitgehend ausgeblendet wurde in der politischen Debatte jedoch die Frage, wie sich der europäische Milchsektor effizienter aufstellen könnte und zukünftige Milchkrisen vermieden würden. Wir argumentieren, dass den deutschen und europäischen Genossenschaftsmolkereien hierbei eine wichtige Rolle zukommt.

Genossenschaftlich organisierte Molkereien erfassen ca. 70 Prozent der in Deutschland produzierten Rohmilch und befinden sich meist im Eigentum aktiver Milchlieferanten. Molkereigenossenschaften stellen somit eine Möglichkeit für Landwirte dar, an der Wertschöpfung der Milchverarbeitung jenseits ihres Hoftores teilzuhaben.

In Zeiten kleinstrukturierter Milchproduktion war auch die genossenschaftliche Milchverarbeitung überwiegend regional. Allerdings sind in den vergangenen Jahrzehnten in Europa zum Teil große Genossenschaftsmolkereien mit multinationalem Charakter entstanden, welche die Milch von Tausenden Landwirten vermarkten. Parallel bestehen jedoch auch kleine Genossenschaften, die zum Teil über besondere Vermarktungsstrategien (Heumilch, Bergbauernmilch, Jahreszeitenmilch, usw.) eine hohe Wertschöpfung für die Milch ihrer Mitglieder erzielen.

Bisher dominieren Andienungspflicht und Abnahmegarantie die Geschäftsbeziehungen zwischen Landwirt und seiner Molkerei: Ein Genosse muss meist seine gesamte Milchmenge seiner Molkereigenossenschaft andienen; im Gegenzug ist diese verpflichtet, seine gesamte Milchmenge abzunehmen. Hinter diesem starr erscheinenden System steckt der genossenschaftliche Solidaritätsgedanke: Durch die Abnahmepflicht haben auch kleine Betriebe trotz hoher Logistikkosten die Chance, ihre Milch gut zu vermarkten. Im Gegenzug dürfen sie nicht "fremdgehen". Insbesondere Landwirte, die größere Milchmengen aus günstiger Verkehrslage anbieten, sehen darin ihre Verhandlungsposition gegenüber den Molkereien geschwächt.

Der Milchpreis, den ein Landwirt erhält, ist meist die Rückvergütung der Erlöse, welche die Molkerei im Vormonat für ihre Produkte erzielt hat. Verwertet eine Molkerei beispielsweise ein Drittel ihrer Milch zu hochwertigem Käse, das zweite Drittel zu Magermilchpulver und die restliche Menge nur als Rohmilch an andere Molkereien (Spotmarkt), so erhalten die Landwirte einen Durchschnittspreis aus diesen Verwertungen.

Das Dilemma liegt dabei in der uneinheitlichen Struktur des deutschen und europäischen Molkereisektors: Einerseits erfassen einige Genossenschaften aufgrund von Produktionsausweitungen ihrer Mitglieder dauerhaft deutlich mehr Anlieferungsmilch, als sie wirtschaftlich verwerten können. Um diese Übermengen loszuschlagen, sind sie auf den Spotmarkt angewiesen. Andererseits gibt es Molkereien, die regelmäßig große Mengen an Rohmilch vom Spotmarkt zukaufen und zu hochwertigen Produkten verarbeiten. Diese Unternehmen verdienen an der Krise, sofern sie die Rohmilch am Spotmarkt zu niedrigeren Preisen einkaufen können als sie ihren Erzeugern über den Durchschnittspreis rückvergüten.

Unter diesem Vergütungsmodell leiden während einer Niedrigpreisphase diejenigen Milchviehbetriebe vergleichsweise stärker, die relativ wenig gewachsen sind: Sie erhalten zwar auch den Durchschnittspreis. Dieser könnte jedoch höher sein, wenn nicht die zusätzliche Milchmenge der expandierenden Betriebe mangels Verwertungsmöglichkeiten den Durchschnittspreis nach unten zöge.

Dieser Effekt wurde in den vergangenen Monaten noch durch eine scheinbar inverse Angebotsreaktion verstärkt: trotz niedriger und fallender Milchpreise wurde zunächst insgesamt nicht weniger, sondern mehr Milch erzeugt. Ein Grund hierfür ist, dass viele Milchviehbetriebe in Tiefpreisphasen mittlerweile nach dem Grundsatz "Liquidität vor Rentabilität" verfahren, um einen Konkurs abzuwenden. Denn selbst wenn der rückvergütete Milchpreis bei nur 20 Cent/kg liegt, wird dieses Geld dringend für Zinsen und Tilgung benötigt - schließlich haben viele Milchviehhalter in den vergangenen Jahren kräftig investiert, um sich für die Zeit nach der Quote zu wappnen.

Aktuelle Vorschläge setzen auf eine Reduzierung der Menge - eine überholte Denkweise

Wie lassen sich künftige Krisen vermeiden oder zumindest abmildern? Der Schlüssel dazu liegt bei jeder einzelnen Molkereigenossenschaft: Würde jede Genossenschaft nur etwa so viel Milch annehmen, wie sie höherwertig vermarkten kann, wären Preistäler weniger tief und weniger lang. Die dafür erforderliche Anlieferungsdisziplin könnte über Staffelpreismodelle für die Vergütung von Rohmilch erreicht werden. Die Preisstaffel würde sich in jeder Molkerei nach der Grenzverwertung der Rohmilch richten. Dies bedeutet, dass ein Landwirt für den Teil seiner Milch, der zu hochwertigen Produkten verarbeitet wird, einen hohen Preis erhält und für die Spotmarkt-"Übermengen" nur den Spotmarktpreis. In der aktuellen Krise wären Letzteres zwischenzeitlich nur etwa 13 bis 16 Cent/kg gewesen - und damit noch einmal deutlich weniger als der niedrigste durchschnittliche Rückvergütungspreis. Ein solches Preismodell würde Landwirte früher veranlassen, die letzten zusätzlichen Mengen nicht mehr anzuliefern. Wenn es gelänge, die Flutung des Spotmarktes durch eine solche Preisgestaltung einzudämmen, wäre viel gewonnen.

Fazit: Die aktuellen Vorschläge zur Lösung der Milchkrise setzen überwiegend auf eine Reduzierung der EU-weit erzeugten Milchmenge. Vermutlich ist diese Denkweise ein Relikt aus Zeiten eines vom Weltmarkt weitgehend abgeschotteten Binnenmarktes. Wir sehen stattdessen den Schlüssel zu einer marktgerechten Vermeidung künftiger Krisen in der Preisgestaltung der Genossenschaftsmolkereien. Das auf genossenschaftlicher Solidarität basierende Rückvergütungsmodell gemäß durchschnittlicher Verwertung der Milch signalisiert Milcherzeugern ausgerechnet in Tiefpreisphasen eine nicht vorhandene Knappheit des Rohstoffs Milch. Ein alternatives genossenschaftliches Vergütungsmodell, das sich an der Grenzverwertung statt an der Durchschnittsverwertung der Milch orientiert, könnte einen wesentlichen Beitrag liefern. Ob ein derart radikaler Wandel gelingt, bleibt abzuwarten. Der Ball liegt im Feld der Genossenschaften.

© SZ vom 07.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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