Samstagsessay:Mehr Mut, bitte

Nicht der Mangel an Erkenntnis ist unser Problem: Wir wissen, woran unsere Umwelt leidet, wer sie zerstört und wie man das ändern kann. Warum also handeln wir jetzt nicht danach?

Von Anselm Görres

Auch alte Kontinente haben Stärken. Seit 1500 gingen die größten Visionen und Transformationen von unserem Erdteil aus, im Guten wie im Schlechten. Wir in Europa entdeckten neue Kontinente und revolutionierten das Christentum. Wir erfanden die meisten Gesellschaftsmodelle (einige bereits in der Antike). Wir haben sie ausprobiert, durchexerziert und durchlitten. Seit 1945 und 1989 sind wir weiser geworden.

Seit 1800 machte gerade unser Land intensive Veränderungen durch. Zunächst zwang uns die Französische Revolution zu Reformen, die England oder Frankreich weit früher begonnen hatten. Seither blieb hier kaum ein Stein auf dem anderen. Schon das 19. Jahrhundert brachte viel Dramatik, überwiegend noch erfreulicher Art. Im 20. Jahrhundert kamen erst Katastrophen, dann große Fortschritte (zumindest im Westen). Auf die Großwende von 1989 folgten der Zerfall des Warschauer Pakts und die Osterweiterung der EU. Heute stehen wir inmitten der Umweltwende, mit Nuklearausstieg, Energiewende und hoffentlich auch Agrar-, Verkehrs- oder Ressourcenwende. Die Flüchtlinge bringen einen weiteren Umbruch. Man kann nicht sagen, dass es uns an Transformationsübung fehlt. Vielleicht sind wir nach so viel Umbruch transformationsmüde?

Kolumbus und Luther wussten weit weniger als wir, aber sie waren sehr viel mutiger

Den Ängstlichen zum Trost: Gemessen an den Mega-Katastrophen vor 1950 und den Mega-Transformationen nach 1950 wird der Weg in die Ökosoziale Marktwirtschaft fast ein Spaziergang. Schon bisher nehmen viele kaum wahr, dass wir diesen Weg schon in den 70ern eingeschlagen haben. Viele Deutsche bemerken auch nicht, dass unser Land zu den Vorreitern einer grüneren und gerechteren Marktwirtschaft gehört. Das Ausland lobt uns dafür. Darauf könnte man stolz sein.

Es gibt Vorbilder für den Aufbruch: Kolumbus und Luther wussten weit weniger als wir, aber ihr Mut war größer. Gewiss fürchteten die Seeleute des Genuesen, dass ihren Schiffen am Rand der Erdscheibe ein Sturz in den Abgrund drohte, offiziell war die Erde noch flach. Kopernikus war 1492 gerade 18, Kepler und Galilei lebten viel später. Luther musste ab 1517 mit Entführung, Gefängnis, Folter oder Hinrichtung rechnen. Von der mutigen Zuversicht der beiden und ihrer Mitstreiter ist heute wenig zu spüren. Kleinmut und Ratlosigkeit prägen die Debatte. Rechtspopulisten wollen eine heile kleine Welt, ohne EU oder Klimaschutz, mit hohen Mauern.

Dabei braucht es zum Aufbau einer gerechteren und nachhaltigeren Ordnung weder Wunder noch Hexenwerke. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch, viele sind umgesetzt oder eingeleitet, nirgends kam es zu den beschworenen Schrecknissen: Weder bei der Ökosteuer noch bei der Energiewende oder beim Emissionshandel.

Beim Klimaschutz lässt sich die Lösung in einem einzigen Wort zusammenfassen: Dekarbonisierung. Wenn wir aufhören, Gas, Kohle und Öl zu verbrennen, sind 80 Prozent der Klimaprobleme gelöst. Niemand sagt, dass das einfach sei. Aber klarer kann eine Aufgabe nicht definiert sein, die meisten Probleme sind diffuser. Schon heute haben wir ein reichhaltiges klimapolitisches Instrumentarium, das meiste davon in der EU entwickelt und erprobt.

Ein Tempel mit Säulen, so stelle ich mir die ökosoziale Marktwirtschaft vor. Das Fundament bilden Europas Grundwerte: Menschenrechte, Demokratie, Humanität. Die tragenden Säulen heißen Liberalstaat, Sozialstaat und Umweltstaat. Die älteste Säule erwuchs aus dem Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts; wirtschaftlich steht sie für Marktwirtschaft und Konkurrenz, Privatbesitz und Unternehmertum. Die zwei jüngeren Säulen sind schwächer ausgebildet. Die soziale Säule entstand im 19. und 20. Jahrhundert aus Arbeiterbewegung und sozialistischen Wurzeln, aber auch aus sozialen Kräften in Kirchen, Handwerk oder Bauernschaft (Kolping, Raiffeisen, Schulze-Delitzsch). Erst ab 1970 sorgten eine starke Umweltbewegung und Umweltengagierte aller Bereiche für den Einstieg in die Ökologisierung der Sozialen Marktwirtschaft. Nun wächst auch die ökologische Säule.

Samstagsessay: Illustration: Lisa Bucher

Illustration: Lisa Bucher

Aber es geht auch um Verantwortung. Alle Säulen bedeuten Rechte wie Verantwortungen. Liberale verbinden mit der Freiheit des Bürgers zugleich seine Verantwortung für Familie, Vermögen, Beruf oder Firma. Sozialbewegung und Sozialisten postulieren Verantwortung für die gesamte Gesellschaft, besonders die Schwächeren, oft über den Nationalstaat hinaus. Ökologen fordern globales Handeln. Probleme wie Klima, Ressourcen, Meere oder Artenerhalt sind regional, national, auch kontinental nicht lösbar. Der Ausbau von Umwelt- und Sozialstaat, was aber bedeutet das konkret? Ein gutes Bild bieten die Netze des Münchner Verkehrs-Verbunds (MVV). Die S-Bahnen gehen großteils bis ins 19. Jahrhundert zurück, genau wie die Anfänge des Sozialstaats. U-Bahnen entstanden in München erst von 1965 an, kaum früher als die Umweltbewegung. Beide Netze müssen ausgebaut werden.

Wie für den öffentlichen Personennahverkehr gibt es auch im Sozialstaat und im Umweltstaat viele Ziele und unterschiedliche Wege. Unser Sozialsystem bietet sehr vieles, darunter Familienförderung, kostenlose oder verbilligte Bildung, fünf Pflichtversicherungen (Arbeitslosigkeit, Berufsunfälle, Krankheit, Pflege, Rente), Mieterschutz, Behindertenhilfe, progressive Besteuerung. Zu Beginn ging es um die Vermeidung von Elend. Moderne Sozialpolitik will eine großzügige Absicherung gegen Lebensrisiken, darüber hinaus die soziale Inklusion aller, die aus eigener Kraft nicht an Wohlstand, Gesellschaftsleben und Kultur teilhaben können.

Die wirksamsten Umweltinstrumente sind das Ordnungsrecht und spürbare finanzielle Anreize. Moralische Appelle an Produzenten und Konsumenten oder bloße Informationspflichten sind viel schwächer. Beim Ordnungsrecht erlässt der Staat Gebote und Verbote, die sich auf bestimmte Stoffe, technische Eigenschaften oder Prozesse beziehen. Als die berühmte "TA Luft" allen Kohlekraftwerken Schwefelfilter vorschrieb, ging das Waldsterben bald zurück. Finanzielle Anreize können erwünschtes Verhalten subventionieren oder unerwünschtes belasten. Maut- oder Pfandsysteme gehören dazu, auch der Emissionshandel. Das Ordnungsrecht appelliert an den Gehorsam und lässt weniger Gestaltungsoptionen. Ökofiskalische Instrumente mobilisieren den Eigennutz und regen Innovation und Kreativität stärker an. Entscheidend ist bei beiden Ansätzen die Konsequenz der Überwachung und Sanktionierung. Im Fall der Kfz-Emissionen war und ist beides viel zu lasch.

Europa macht Dekade für Dekade sozialpolitische und ökologische Fortschritte

Nichts vergessen, nichts gelernt: Tocquevilles Diktum trifft auch heute. Mehr Geschichtsbewusstsein könnte die ökologische Transformation enorm erleichtern. Sind doch die Argumente der Fortschrittsgegner über die Jahrhunderte ähnlich geblieben. Wie es von jeher die Gegner des Sozialstaats taten, so warnen heute die Gegner des Umweltstaats unentwegt vor Kostensteigerungen und anderen Übeln für Innovation und Wettbewerb. Viele vergessen dabei, dass der deutsche Sozialstaat, ob in seiner Aufbauphase mit Sozialdemokratie und Sozialversicherung oder später in der Bundesrepublik, stets eine Erfolgsgeschichte war. Regelmäßig gingen sozialpolitische Fortschritte und wirtschaftliche Erfolge Hand in Hand. In der viel kürzeren Geschichte des Umweltstaates wiederholt sich diese Erfahrung.

Viele Junge übersehen das Tempo des Fortschritts. Sie wissen nicht, dass es in den 60er- und 70er-Jahren noch drei Diktaturen in Westeuropa gab (Portugal bis 1968, Griechenland bis 1974, Spanien bis 1975). Insgesamt machte Europa Dekade für Dekade sozialpolitische und ökologische Fortschritte - auch im letzten Jahrzehnt. "All I Really Need to Know I Learnt in Kindergarten" - aus diesem Bestseller von Robert Fulghum (1989) ergibt sich die Ökosoziale Marktwirtschaft fast von selbst: Teile alles. Sei fair. Schlage niemanden. Tu die Dinge dahin zurück, wo du sie gefunden hast. Räume Deine Unordnung auf. Nimm nichts, was Dir nicht gehört. Sei der Wunder bewusst. All diese Regeln verletzt unser Umgang mit Ressourcen. Wenn das Vierjährige verstehen, warum dürfen Erwachsene dagegen verstoßen?

Drei Thesen

Vorbilder: Von der Zuversicht früherer Generationen ist heute wenig zu spüren

Maßnahmen: Am wirksamsten sind das Ordnungsrecht und finanzielle Anreize

Ziele: Menschen müssen Lust auf eine grünere und gerechtere Zukunft haben

Letztlich geht es um die Wiedererlangung der Unschuld, besonders beim Verkehr. Ob Auto, Flugzeug, Bahn, Schiff: Mobilität ist wunderbar und wertvoll. Unsere Kinder können reisen und kennen so die Welt. Heutige Mobilität heißt aber auch Naturvernichtung, nicht nur durch Klimagase. Jeder weiß es. Nur ein Bruchteil der verursachten Schäden und Sozialkosten wird vom Reisenden halbwegs verursachergerecht kompensiert. Dafür braucht es ehrlichere Preise. In einer Ökosozialen Marktwirtschaft müssen sie nicht nur die betriebswirtschaftliche, sondern auch die ökologische und soziale Wahrheit sagen, etwa über menschenwürdige Löhne.

Transformationen finden nicht zum Vergnügen statt. Wer will schon alles umbauen? Aber sie werden unvermeidlich, wenn Probleme nicht verschwinden und bisherige Lösungen nicht ausreichen. Kein Umbau ohne Risiko. Aber weiter "Business as usual" wäre die riskanteste aller Strategien, zudem undurchführbar. Ich behaupte: Friedlicher, schrittweiser, global abgestimmter ökologischer Umbau, davor muss niemand Angst haben, darauf kann man sich freuen.

Wir sollten den Menschen Lust auf eine grünere und gerechtere Zukunft machen. Auf den Straßen weniger Fahrzeuge, meist elektrisch und leise. Im digitalen wie analogen Handel nur noch saubere, gesunde Produkte ohne Verpackungsmüll und Einwegschrott. Wertstoffe werden recycelt, Behälter grundsätzlich mehrmals genutzt. Sonne, Wind und begrenzt auch Biomasse sind die Haupt-Energiequellen. Weg mit umweltschädlichen Subventionen. Mehr und mehr nachwachsende Baustoffe für neue Häuser und Fabriken. All das gibt es bereits in Ansätzen, jedes Jahr kommen neue, bessere Lösungen hinzu. Nicht Verlangsamung, sondern ein viel konsequenterer und rascherer Umbau unserer Wirtschaftsordnung wäre die richtige Antwort auf die Gespenster des Rechtspopulismus. Kolumbus und Luther hatten recht: Kleinmut hilft nur den Falschen.

Anselm Görres, Volkswirt, arbeitete zehn Jahre als McKinsey-Berater und Investor in Ostberlin und ist seit 1994 Unternehmer in München.

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