Erzbischof Marx im Interview:"Kapitalismus ist ein Ethikfresser!"

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"So geht es nicht weiter": Der Münchner Erzbischof Reinhard Marx zu Marx, Moral, Bankern und einer neuen Weltgesellschaft.

M. Drobinski, H.-J. Jakobs, B. Oswald, Video: M. Kammermayer

Reinhard Marx, 55, ist seit Februar 2008 Erzbischof von München und Freising. In der Deutschen Bischofskonferenz ist er Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen. Der vormalige Weihbischof von Paderborn und Bischof von Trier fühlt sich der katholischen Soziallehre verpflichtet. Im Herbst setzte er sich in seinem neuen Buch mit politscher Ökonomie auseinander und nannte es - ganz nach Karl Marx - "Das Kapital". sueddeutsche.de traf ihn in seinem Palais in Alt-Schwabing.

sueddeutsche.de: Herr Erzbischof, Sie haben "Das Kapital" punktgenau in die Finanz- und Wirtschaftskrise hinein veröffentlicht - mehr als 140 Jahre nach dem "Kapital" von Karl Marx. Was sagt der Papst zu Ihrem Buch?

Reinhard Marx: Das Buch hat bis nach Italien und Russland ein überraschend großes Interesse gefunden. Der Papst selbst hat es noch nicht gelesen. Als ich kürzlich in Rom war, haben wir uns allgemein über die Finanzkrise unterhalten. Er hat sehr interessiert zugehört. Benedikt XVI. nimmt die Krise sehr aufmerksam zur Kenntnis und es interessiert ihn natürlich, was sein Nachfolger auf dem Bischofsstuhl in München macht.

sueddeutsche.de: "Das Kapital" von Karl Marx stand ja einmal auf dem Index des Vatikans.

Marx: Der Index umfasste Bücher, die dem Glauben widersprachen und vor denen man warnen wollte. Das war zeitbedingt damals nicht ganz so verkehrt. Heute soll sich jeder sein Urteil selbständig bilden. Wir sagen: Was bei Karl Marx steht, entspricht nicht dem christlichen Menschenbild. Ich halte es mit Oswald von Nell-Breuning, ...

sueddeutsche.de: ... dem Nestor der katholischen Soziallehre ...

Marx: ... der gesagt hat: "Karl Marx ist unser großer Gegner." Daran gibt es auch in Zukunft nichts zu rütteln. Aber wir bezeugen ihm einen sachbedingten Respekt, allein schon wegen der Wirkung seiner Gedanken, etwa in der frühen Arbeiterbewegung.

sueddeutsche.de: Karl Marx ist also noch aktuell?

Marx: Wir merken, dass er wieder aktuell werden könnte. Das möchte ich mit meinem Buch verhindern helfen. Dass man nicht wieder in diese ideologische Schublade hineingreift und zu dem Schluss kommt, der Kapitalismuskritiker Karl Marx habe vielleicht die richtigen Antworten. Nein, er wies den falschen Weg, wenn er auch einige richtige Analysen in Bezug auf den frühen Kapitalismus gemacht hat.

sueddeutsche.de: Marx geht von der Selbstzerstörung des Kapitalismus aus. Wer soll die aktuellen zerstörerischen Kräfte des Wirtschaftssystems aufhalten? Die Politik? Die Kirche?

Marx: Die Vernunft der Menschen! Da bin ich von der Aufklärung geprägt, die ja schon christliche Wurzeln hat. Ich sehe die ganze Geschichte des Christentums und gehe von einem realistischen Menschenbild aus, von der Fähigkeit des Menschen, Gut und Böse, Richtig und Falsch zu unterscheiden. Dieses Verständnis von Aufklärung besagt, dass Menschen aus Krisen lernen können. Das heißt, wir können jetzt eine Marktwirtschaft aufbauen, die ein Ziel verfolgt: Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen.

sueddeutsche.de: Adam Smith und die anderen Ökonomen gingen auch vom Menschen aus. Er ist in ihrem Weltbild egoistisch. Man müsse den Eigennutz fördern, den Drang zur Maximierung, um Positives für die Gesellschaft zu bewirken.

Marx: Private vices, public virtues: Private Laster werden zu öffentlichen Tugenden. Das hat Adam Smith nicht gesagt - er war klüger -, aber andere haben es gesagt. Da ist nur zum Teil etwas dran. Ich habe Smith sehr faszinierend gefunden, weil er aus einer moraltheologischen Haltung heraus fragt: Wie können wir ein System in Gang bringen, das möglichst vielen Armen eine Chance gibt? Dadurch kam er auf den Eigennutz. Die Kirche sagt auch: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Das Eigeninteresse ist also keine Sünde, aber das ist eben nicht alles. Adam Smith hat eben auch über eine Theorie der öffentlichen Güter nachgedacht und nicht die Abschaffung des Staates gefordert.

sueddeutsche.de: Viele Ökonomen haben, gerade in den vergangenen Jahren, gesagt: Gier hat etwas Gutes.

Marx: Ja, leider. Kann die Sünde etwas Gutes haben?

sueddeutsche.de: Es hieß: Wir brauchen viel mehr ökonomische Freiheit und weniger Staat.

Marx: Das ist doch nicht Gier! Ökonomische Freiheit ist nicht Gier!

sueddeutsche.de: Was ist denn Gier?

Marx: Gier ist es, maßlos für sich selbst etwas herausholen zu wollen, auch auf Kosten anderer, ohne Rücksicht auf Verluste. Den Homo oeconomicus, der immer nur maximiert, den gibt es nicht! Das ist ein Gedankenkonstrukt. Ein solcher Mensch wäre unerträglich.

sueddeutsche.de: Aber ist das nicht doch ein realistisches Bild vom Menschen, dass er gierig ist, dass er seinen Vorteil will?

Marx: Das muss man einem mit der Seelsorge betrauten Priester und Bischof nicht sagen, dass der Mensch auch Sünder ist und an sich selber denkt. Smith hat richtig gefragt: Wie können wir die Eigeninteressen der Menschen mit dem Gesamtinteresse aller verbinden? Das ist auf Märkten ein funktionierendes Modell - aber Märkte sind nicht das ganze Leben und wir brauchen klare Regeln.

Lesen Sie auf Seite zwei, was Marx unter "struktureller Sünde" versteht.

sueddeutsche.de: Hat es in den vergangenen Jahren einen Primat der Ökonomie gegeben, der unberechtigt war?

Marx: Die sehr einseitige Orientierung an Kapitalinteressen in der Wirtschaft hat mich sehr beunruhigt. Die Börsennotierung - und damit die Kapitalorientierung - hat ein zu großes Gewicht bekommen. Als ich mitbekommen habe, dass viele Unternehmen 25-prozentige Renditen einfahren wollen, da musste ich sagen: "Halt, Freunde, das wird so nicht gehen! Dann stimmt ja auch der Wettbewerb nicht mehr."

sueddeutsche.de: Sind 25 Prozent Renditeerwartung Gier?

Marx: Gier ist erst mal eine persönliche Eigenschaft. Ich kann in die Seele des Einzelnen nicht hineinschauen. Aber es gibt Systeme, die das Schlechte, die Gier, die Maßlosigkeit befördern und andere, die korrigierend eingreifen.

sueddeutsche.de: Das nennen Sie "strukturelle Sünde".

Marx: Manche Systeme sind so organisiert, dass sie dem Einzelnen die Möglichkeit geben, sich schnell gegen den anderen zu wenden und so zu sündigen. An solchen Strukturen kann man nicht mitbauen. Wenn unsere Wirtschaft so wäre oder ich in einem Betrieb arbeiten müsste, wo ich mich nicht an die Zehn Gebote halten kann, dann müsste ich als Christ sagen: Dagegen muss ich kämpfen, das ist inakzeptabel.

sueddeutsche.de: Ist es Sünde, sein Geld an solchen Plätzen anzulegen, wo die Zehn Gebote nicht gewährleistet sind?

Marx: Als Christ muss ich auch Verantwortung für mein Geld übernehmen - und es nach bestem Wissen und Gewissen anlegen; es kann dann nicht nur um die Rendite gehen. Sicher ist das für den Einzelnen manchmal schwer durchschaubar, aber jeder muss sich um Informationen bemühen. Und es geht um Vertrauen demjenigen gegenüber, dem ich mein Geld anvertraue.

sueddeutsche.de: Hat die katholische Kirche selbst schlechte Erfahrungen mit dem Finanzkapitalismus gemacht?

Marx: Als Weihbischof in Paderborn habe ich ein paar Regeln für die Börse verfasst und schon zu Zeiten der Internetblase gewarnt. Da hieß es: "Du darfst nicht so kritisch sein gegenüber diesen Spekulationen. Da können auch die einfachen Leute mal schnell reich werden." Spätestens da wusste ich, dass ich recht hatte. Das kann nicht funktionieren. Für mich als Bischof ist es nicht egal, wo und wie wir unser Geld anlegen, bei allen Unwägbarkeiten, die das komplexe Wirtschaftsleben mit sich bringt.

sueddeutsche.de: Kann man als Verantwortlicher eines Bistums einfach sagen, wir verzichten auf einen Teil der möglichen Rendite?

Marx: Selbstverständlich. Ich habe im Bistum Trier und auch jetzt in unserem Erzbistum den Fachleuten Orientierungen für die Geldanlagen gegeben. Wir müssen glaubwürdig dafür stehen können, was wir tun. Wir sollten auch nicht hochspekulativ anlegen. Also legen wir konservativ an: Langfristig denken! Nachhaltig denken! Ethisch denken!

sueddeutsche.de: Pater Anselm Grün aus der Abtei Münsterschwarzach hat mit russischen und argentinischen Staatsanleihen viel Geld verloren. Das wäre Ihnen nicht passiert?

Marx: Ich weiß nicht, was er gemacht hat. Ich will auch nicht ausschließen, dass man Fehler machen kann in einem stark vernetzten Finanzmarkt. Aber hochspekulative Anlagen sind für mich immer mit einem Fragezeichen versehen. Die Kirche sollte sich daran nicht beteiligen.

sueddeutsche.de: Das Bistum Aachen hatte Geld bei der pleitegegangenen US-Investmentbank Lehman Brothers angelegt.

Marx: Ich kann das nicht beurteilen. Aber als Lehman Brothers nicht gerettet wurde, wusste ich, diese Krise wird noch eine Riesendimension annehmen. Man weiß, wie verzweigt diese Bank war, wie sehr weltweit verknüpft - das wird auch für Anleger, die nie hochspekulativ tätig waren, Auswirkungen haben.

sueddeutsche.de: Sie haben in Ihrem Buch die Banker zur Umkehr aufgerufen. Ist schon jemand ihrem Ruf gefolgt und hat im Zuge der Finanzkrise Abbitte bei Ihnen geleistet?

Marx: Wenn das geschehen wäre, würde ich Ihnen das nicht sagen. Jeder muss das selbst überlegen. Es gibt keine Kollektivschuld, weder in einem Land noch in einem Berufsstand. Die Umkehr kommt durch die Umstände selbst und durch Einsicht. Man merkt: So geht es nicht weiter. Wir müssen alle überlegen: Haben wir den Bogen nicht überspannt? Als ich vor Bankkaufleuten und Bankmanagern gesprochen habe, habe ich gemerkt, wie sehr auch sie unter diesem Druck leiden. Man darf auch nicht vergessen: Dieser Druck - immer mehr Rendite! - ist auch von den Aktionären her gewachsen.

sueddeutsche.de: Es hat sich doch kein Banker dagegen gewehrt!

Marx: Ich sehe hier ein Wechselverhältnis, das alle betrifft. Alle müssen realistischer sein und klären, wie eine verantwortliche Marktwirtschaft aussehen soll. Natürlich: Ohne Gewinne geht es nicht. Aber wenn man eine Firma schließt und dabei sagen muss: Wir haben 15 Prozent Rendite, wir brauchen aber 25 Prozent, deswegen machen wir die Firma dicht, dann muss ich sagen, das ist nicht mehr die Marktwirtschaft, wie ich sie mir vorstelle und die ökonomisch vernünftig ist.

sueddeutsche.de: Womit wir wieder bei der Gier wären. In Ihrem Buch schreiben Sie, es würde ausreichen, wenn ein Manager das Zwanzigfache eines durchschnittlichen Arbeitereinkommens verdient. Das wären rund 600.000 Euro im Jahr. Ist es ethisch korrekt, wenn der Staat einen solchen Maximallohn vorschreiben würde?

Marx: Das ist im Grunde auch eine Frage des Marktes. Aber es gibt ja die Regeln der Billigkeit, auch im BGB. Die sind da offensichtlich überschritten. Insofern kann ich verstehen, wenn der Staat ein Dach darüber legt, wenn er bestimmte Eckpunkte nennt. Es ist ein wesentlicher Knackpunkt gewesen, dass man die Lohnstrukturen von Managern mit falschen Anreizen versehen hat, die die alleinige Orientierung an der Kapitalrendite gefördert haben.

sueddeutsche.de: Der Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann müsste also den Großteil seines Einkommens abgeben?

Marx: Man kann wieder zu vernünftigen Zuständen kommen, ohne dass der Staat etwas genau festlegt.

Lesen Sie auf Seite drei, wie der Bischof zum Mindestlohn steht.

sueddeutsche.de: Gilt das auch im Niedriglohnsektor? Oder sollte der Staat hier einen Mindestlohn vorschreiben?

Marx: Mittlerweile arbeiten 20 Prozent der Deutschen im Niedriglohnbereich - das halte ich für keine gute Entwicklung. Dass wir den gesetzlichen Mindestlohn überhaupt diskutieren, ist ein Warnsignal. Die Tarifparteien sind nicht mehr überall in der Lage, ausreichende Löhne auszuhandeln. Also muss man vielleicht Grenzen ziehen - das erschiene mir aber über eine Ausweitung des Entsendegesetzes vernünftiger. Es gibt von der katholischen Soziallehre her auch eine Untergrenze. Wenn sie unterschritten wird, spricht man von sittenwidrigen Löhnen.

sueddeutsche.de: Was können die Kirchen in dieser Situation tun, außer zu sagen: Maß halten! Oder gibt es so etwas wie eine ethische Politikberatung?

Marx: Ich habe jetzt dieses Buch geschrieben und äußere mich öffentlich. Und die Kirche hat eine ganze Reihe von Stellungnahmen über Ethik und Wirtschaft verfasst, die man jetzt vielleicht neu anschauen sollte.

sueddeutsche.de: War die Kirche nicht in den vergangenen Jahren viel zu zahm in ihrer Kapitalismuskritik?

Marx: Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann, aber es ist bei uns Bischöfen und Theologen immer ein großer Respekt vor ökonomischem Sachverstand da. Wir wollen ja nicht sagen: Ich weiß als Bischof und Priester alles besser! Aber die katholische Soziallehre war immer kritisch einem primitiven Kapitalismus gegenüber. Das kann man bei Johannes Paul II. gut nachweisen. Mein Buch soll manche Punkte der Soziallehre der Kirche allgemeinverständlich und aktualisiert zur Diskussion stellen.

sueddeutsche.de: Noch einmal: Was soll die Kirche tun?

Marx: Zum einen ihre Soziallehre verkünden. Da besteht jetzt die Chance, wieder stärker gehört zu werden. Wir brauchen aber auch politische Bewegung. Ich habe das erst vor kurzem bei der Korbinianswallfahrt vor Tausenden jungen Leuten aus meinem Erzbistum im Dom von Freising gesagt: Wir brauchen euch als junge Christen, die wirtschaftlich etwas tun, die Unternehmer werden mit einer bestimmten Idee, die in die Gewerkschaften gehen, die politisch aktiv werden in den Parteien. Wir müssen selber aktiv werden und dem Rad, das sich in eine falsche Richtung dreht, in die Speichen greifen. Das kann ich als Bischof nur durch mein Wort, nicht durch aktive Politik.

sueddeutsche.de: Für Sie gehört ein intaktes Gemeinwesen zu einem funktionierenden Staat. In Deutschland und anderen modernen Gesellschaften gibt es aber längst eine Tendenz zur Individualisierung. Die Bindungskräfte großer Organisationen wie der Parteien und der Kirche lassen nach, gleichzeitig geht die Schere von Arm und Reich auseinander.

Marx: Ich bin in letzter Zeit oft mit Bürgermeistern zusammen. Auch die beklagen das. Es führt eben zu "Kosten", wenn jeder seiner Wege geht, wenn das Gemeinwesen zu wenig auf einem gemeinsamen Fundament steht. Der Kapitalismus ist tendenziell ein "Ethikfresser", hat einmal ein Ökonom gesagt. Er belohnt denjenigen, der seinen eigenen Interessen folgt. Deswegen braucht man Gegenbewegungen. Vielleicht ist jetzt die Stunde, auf Familie, Kultur, Religion hinzuweisen - auf die Werte, die eine Gesellschaft solidarisch zusammenhalten. Wer könnte das sonst tun?

sueddeutsche.de: Nur noch 61 Prozent der Deutschen sind Christen.

Marx: Das wissen wir. In anderen Ländern ist das ähnlich. Aber dennoch: Ich habe keine Angst um die Zukunft der Kirche. Wir haben unsere Aufgabe, treu in dieser Gesellschaft unsere Botschaft zu verkünden, Menschen zu versammeln, die aus dieser Kraft leben. Dann kann die Kirche auch das sein, was Jesus von den Christen verlangt: Seid Salz der Erde und Licht der Welt. Die Zahl alleine sagt nicht viel aus über die Qualität dieses Zeugnisses.

Lesen Sie auf Seite vier, wie Marx den Kapitalismus à la Russland und China beurteilt.

sueddeutsche.de: Ihre Grundidee ist, wie in der traditionellen Ökonomie, dass Marktwirtschaft und Freiheit zusammengehören. In der Realität aber haben Volkswirtschaften wie China und Russland mit staatlich gelenkten Riesenkonzernen Erfolg.

Marx: Fragt sich nur: Wie lange? Da wollen wir mal abwarten. Da bin ich doch geprägt von der sozialen Marktwirtschaft. Auf Dauer wird nur eine Ordnung nachhaltig und langfristig überleben, die die Freiheit des Menschen respektiert. In Russland und China erleben wir noch keine soziale Marktwirtschaft, sondern Feudalkapitalismus.

sueddeutsche.de: Tatsächlich verändert sich eben mit diesem "Feudalkapitalismus", wie Sie das nennen, die politische Architektur der Weltmächte.

Marx: Wo keine Demokratie ist und wo Menschenrechte nicht geachtet werden, da kann es langfristig kein erfolgreiches Gemeinwesen geben. Das gehört zusammen. Und wo kein erfolgreiches Gemeinwesen ist, wird auch die Wirtschaft nicht funktionieren. Es ist wichtig, dass der Westen für seine Werte wirbt, ja engagiert eintritt: Die soziale Marktwirtschaft ist eine Wirtschaftsidee, eine Gesellschaftsvorlage und ein Zivilisationsprodukt, die ein Minimum an Fairplay und damit ethischer Substanz unter den Akteuren fordert. Und sie ist langfristig ohne Alternative.

sueddeutsche.de: Banken brechen in dieser Marktwirtschaft zusammen, ganze Branchen leiden Not. Gehört es zur gesellschaftlichen Verantwortung, dass der Staat Milliarden Euro hineinschießt oder sogar zum Unternehmer auf Zeit wird? Dass sich also die Forderung nach Vergesellschaftung von Karl Marx temporär erfüllt?

Marx: Wir haben all die Jahre andere Debatten geführt: Der Staat soll sich aus allem heraushalten! Jetzt wundere ich mich, dass dieselben Leute, die das damals gefordert haben, inzwischen das Umgekehrte fordern. Vielleicht ist es doch nicht so verkehrt, mal als Theologe über Ökonomie zu reden. Wir haben neu lernen müssen, dass sich nicht alles über Märkte von selber regelt.

sueddeutsche.de: Wie viel Staat ist denn notwendig?

Marx: Die Wirtschaft muss sicher einen Freiraum haben. Sie ist ein autonomer Kultursachbereich, sagt die katholische Soziallehre. Deswegen sollte man das wirtschaftliche Geschehen nicht in die Hand des Staates geben. Der Staat setzt die Rahmenbedingungen, aber Märkte müssen Märkte bleiben. Wenn der Staat eingreift, kann das eine Notoperation sein, wie etwa beim Strukturwandel im Bergbau. Da braucht man staatliche Begleitung. So sieht das im Augenblick auch bei der Automobilindustrie aus. Aber man muss gut überlegen, wie man dann wieder rauskommt - sonst schädigt man auf Dauer das Gesamtsystem.

sueddeutsche.de: Wie lange bleibt die Finanzkrise der Welt erhalten?

Marx: Das Thema ist nicht zu Ende. Die Finanzkrise hat weitreichende Auswirkungen, das spüren wir jeden Tag von neuem. Das wird uns über Jahre beschäftigen. Meine Sorge ist, dass diejenigen, die sowieso schon unten sind, davon noch einmal stärker betroffen sein werden, bei uns und erst recht global.

sueddeutsche.de: Was müsste Ihrer Meinung nach passieren?

Marx: Wir stehen vor der Herausforderung, jetzt Schritt für Schritt eine Weltgesellschaft aufzubauen, in der die Vielfalt der Völker repräsentiert ist, wo Unternehmen über Nationalstaaten hinweg operieren, wo es aber eine Rahmenordnung geben muss, die durchsetzbar ist. Die jetzige Krise sorgt für einen Schub in diese Richtung. Der Weltfinanzgipfel in Washington war erst ein Anfang. Das 21. Jahrhundert wird von der Frage geprägt sein: Schaffen wir so etwas wie eine Weltinnenpolitik?

sueddeutsche.de: Weltinnenpolitik? Weltwirtschaftspolitik würde für den Anfang schon reichen.

Marx: Die Päpste haben den Begriff "Weltgemeinwohl" schon in den sechziger Jahren geprägt. Wir brauchen eine Orientierung an der gesamten Menschheitsfamilie. Wir brauchen eine Ordnungspolitik für die gesamte Welt. Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass wir einen Strafgerichtshof haben, vor dem ein Mann wie Milosevic erscheinen muss? Warum soll es in anderen Bereichen, etwa bei der Wirtschaft und den Finanzmärkten, nicht möglich sein, Ordnungen zu schaffen, die auch durchgesetzt werden können?

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