"Dieses Land ist unfähig":Viel Spaß in Ghana!

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Von niemandem wird Deutschland so schlecht geredet wie von führenden Wirtschaftsexperten. Dazu mal eine Klarstellung.

Andreas Hoffmann

Vielleicht begann alles mit Horst Köhler und seiner Rede bei den Arbeitgebern. Der Bundespräsident hatte eine Studie zitiert, die seither in vielen Artikeln auftaucht, und wenn man diese Studie liest, glaubt man, einen alten Bekannten wieder zu treffen, der einen mit den Worten begrüßt: "Dieses Land ist unfähig."

"Ökonomie ist ein Legoland mit vielen Klötzen" (Foto: Foto: dpa)

Da Horst Köhler promovierter Volkswirt ist, also eine Art Bundesökonom, und zuweilen Weltuntergangsgesänge als Reden tarnt, musste er zwangsläufig die Studie entdecken, und so zitierte er die Untersuchung, wonach wir Deutschen das schlechteste Steuersystem der Welt haben. Ein Vergleich von 104 Ländern weist uns Platz 104 zu. Im Grunde müsste man die Finanzämter schließen und die Beamten entlassen.

Bangladesch und Ghana vor Deutschland

Im Kleingedruckten der Studie stand, welche Länder besser sind als wir: Tschad, Bangladesch, Äthiopien, Tansania, Mali, Nigeria, Simbabwe, Malawi und Ghana. Halb Afrika und das Armenhaus Asiens können besser Steuern erheben als wir? Die meisten dieser Länder kenne ich nicht. Außer Ghana. Ghana ist Platz 23 und somit 81 Plätze voraus. Unser Vorbild.

Ghana ist Afrika für Anfänger. Man kann dort Taxi fahren, ohne ausgeraubt zu werden, und auch an die Luft gewöhnt man sich, die abwechselnd nach Dieselschwaden, Ruß oder verbrannten Autoreifen riecht. An den Straßen ziehen sich offene Abwasserkanäle entlang, in denen Kot und Urin treibt.

Schilder am Straßenrand mahnen: "Zahl Deine Einkommenssteuer"

Die Fischer kreuzen mit Holzbooten über das Meer, ohne Motor, dafür sind die Segel selbst genäht. Aber Ghana funktioniert, gemessen an Afrika. Die Wirtschaft wächst, es gibt keinen Bürgerkrieg wie in Äthiopien, keine Rebellentruppen wie in Nigeria, Mali oder Tschad, übrigens alles Länder mit besseren Steuersystemen als Deutschland. An ghanaischen Straßen steht nur manchmal ein Schild, ein Mann hebt seinen Zeigefinger, und daneben steht: "Zahl Deine Einkommensteuer!"

Erhoben hat die Studie über die Steuersysteme ein Gremium, das einmal im Jahr kluge Köpfe einlädt: das "World Economic Forum". Es ist eine Stiftung, die von tausend weltweit führenden Unternehmen getragen wird. Zu den Treffen pilgern Staatschefs und Manager, doch beim Reden haben sie etwas aus den Augen verloren.

Das Urteil über Deutschland stützt sich auf etwa 70 deutsche Führungskräfte, die jedes Jahr befragt werden - und nun sind wir Letzter. Aus Ghana kamen zuletzt mehr als 80 Antworten und aus Guatemala mehr als 260. Was ein gutes oder schlechtes Steuersystem ausmacht, untersucht man nicht. Es geht um Meinungen, um 70 Meinungen, was bei 3,2 Millionen Firmen und 82 Millionen Bürgern vielleicht nicht sehr viele sind.

Seit dieser Umfrage plagen mich Zweifel an meinem damaligen Studienfach, der Ökonomie. Dabei mag ich die Wirtschaftswissenschaft. Ökonomen sind Künstler. Sie reduzieren die Wirklichkeit. Der Künstler sieht ein Gesicht, einen Baum und reduziert es auf das Wesentliche, er verfremdet, verwirft, gestaltet um, bis etwas Neues entsteht. Wie der Ökonom. Er reduziert die Welt und blendet vieles aus.

In seiner Welt sind die Firmen gleich, es herrscht ein keimfreier Raum. Man nennt das vollkommene Konkurrenz. Kein Microsoft kann in diesem Raum die Computerprogramme vorschreiben, kein Aldi die Preise diktieren. Diesen Raum bewohnen vor allem Idealmenschen wie der Homo oeconomicus. Er weiß ständig Bescheid, kennt alle Preise, alle Produkte, verzweifelt nie im Media Markt, wenn er vor Hunderten Digitalkameras steht.

Leben wie Robinson Crusoe

Der Homo oeconomicus handelt stets rational, lässt sich nie beeinflussen, kauft keinen BMW-Roadster, wenn der Nachbar einen fährt. Und meistens lebt er in seiner Welt völlig abgeschottet. Er nimmt selten Kontakt zum Ausland auf, nur ausnahmsweise wird ex- oder importiert, man lebt wie Robinson Crusoe.

Es ist ein Legoland mit vielen Klötzen. Alles ist übersichtlich. Doch etwas unterscheidet den Ökonomen vom Künstler: Der Maler weiß, dass er Kunst macht. Der Ökonom nicht. Pablo Picasso dachte nie, dass sein Guernica ein Foto des spanischen Bürgerkrieges ist. Der Ökonom aber schaut auf die Lego-Welt und sagt: "So ist das Leben."

Ein Stecknadelkopf erklärt die Welt

Diese Welt erschließt sich nicht leicht. Ich zum Beispiel habe Jahre gebraucht. Es begann in einem Hörsaal an der Kölner Universität in einem Pulk von circa 700 Studenten, irgendwo in Reihe 22 oder 23. Vorne stand ein silbermähniger Herr, der als Stecknadelkopf erkennbar war.

Ein Overheadprojektor warf griechische Buchstaben an die Wand. Der Stecknadelkopf redete von "Expansionspfaden" und "Nutzengebirgen", und ich schaute zu meiner Nachbarin, dachte über gemeinsame Expansionspfade nach, was mir Nutzen gebracht hätte. In solchen Momenten fühlte ich mich fehl am Platz.

Aus Puzzleteilen wurde ein Bild

Eines Tages im zehnten Semester änderte sich das. Ein seltsames Gefühl stellte sich ein. Man sah die Zahlen, die Formeln, dachte an den Stecknadelkopf und alles fügte sich. Edgeworth-Boxen, Gini-Koeffizient, die Geldmenge M3 - aus Puzzleteilen wurde ein Bild. Wie mir, so erging es meinen Kommilitonen.

Nun redeten wir bis in die Nacht nicht mehr über Fußball, sondern über Milton Friedman, den Geldtheoretiker. Wir schwelgten in Zahlungsbilanzmechanismen und dem Haavelmo-Theorem, als würde ein Joint kreisen. Die Professoren hatten uns angefixt. Wir sahen eine Welt, die andere nicht sahen. Ich liebte dieses Gefühl. Bis sich erste Zweifel regten.

Da war dieses große Blatt mit den vielen Zahlen. Eine Statistik der OECD. Die Zahlen passten nicht zum Glauben der Ökonomen. Dieser besagt, Steuern und Abgaben müssen runter. Runter. Runter. Runter. Nur wenn sich der Staat zurückhält, entstehen Jobs, und die Wirtschaft wächst.

Die OECD-Statistiken sagten anderes. Die Experten hatten aufgelistet, wie stark der Staat die Bürger in jedem Land schröpft, anhand der Steuer- und Abgabenquote. Je höher die Quote, desto weniger bleibt dem Bürger übrig. Finnen, Dänen, Schweden, Österreicher, Franzosen werden mehr ausgepresst als wir, und dennoch wächst die Wirtschaft stärker, und sie haben oft weniger Arbeitslose.

Schröder hat die Last gesenkt - doch es half wenig

In der Schweiz dagegen greift der Staat kaum ab, doch die Wirtschaft wächst wenig, aber es gibt auch weniger Arbeitslose. In den USA und Japan ist wieder alles anders. Deutschland liegt etwa im Mittelfeld, und Gerhard Schröder hat sogar die Last gesenkt, doch das half wenig. Das Wachstum ließ nach, und die Arbeitslosigkeit stieg.

Die OECD-Statistik also ergab keinen Sinn. Ein direkter Zusammenhang zwischen Abgaben, Wachstum und Jobs war nicht erkennbar, obwohl das doch alle behaupteten. Seit dieser Statistik glaube ich nicht mehr an die wundersame Wirkung von Steuersenkungen. Bill Clinton und Tony Blair haben sich ohnehin nicht daran gehalten.

Das Leben ist kein Legoland

Sie erhöhten Steuern, trotzdem wuchs die Wirtschaft, und es entstanden Jobs. Das Leben ist anders als Legoland. Wer darüber grübelt, stellt dann immer mehr Klötze in Frage.

Ich kann zum Beispiel in kein Flugzeug steigen, ohne an Subventionen zu denken. Ökonomen hassen Subventionen. Subventionen entstammen dem Reich des Bösen, sie lähmen die Wirtschaft. Doch ohne Subventionen würde kein Airbus fliegen. Nur weil einige Staatschefs Flugzeuge bauen wollten, fliegen wir Airbus.Andernfalls würde Boeing über die Lüfte herrschen wie Bill Gates über die Computer.

Der Streit um den Mindestlohn

Oder der Mindestlohn. Fast alle Ökonomen sagen: Der Mindestlohn zerstört Arbeitsplätze. Einige Wissenschaftler haben untersucht, wie Mindestlöhne in der Realität wirken. Das Fazit war: Wir wissen es nicht. Manchmal fallen Jobs weg, manchmal nicht, und manchmal entstehen welche.

Oder die Macht der Gewerkschaften. Angeblich schmälern die Gewerkschaften den Erfolg der Firmen. Doch warum sind dann ausgerechnet deutsche Autohersteller, Maschinenbauer, Metall- und Elektrobetriebe so erfolgreich in aller Welt? Eigentlich müssten sie scheitern, in ihren Betrieben sind die Gewerkschaften am stärksten.

Nahezu alle Ökonomen haben eine Lieblingsidee, um das Gesundheitswesen zu sanieren. Die Kopfpauschale. Sie soll den Wettbewerb steigern, die Kosten senken, Transparenz schaffen, sowie Wachstum und Jobs produzieren. Ein Wundermittel. Leider gibt es dafür keinen einzigen praktischen Beweis. Was es gibt, sind Modelle. Viele Modelle.

Als einziges Land der Welt hat die Schweiz die Kopfpauschale eingeführt, doch kein Vorteil ist da zu sehen. Im Gegenteil. Manches läuft schlechter als bei uns, und fragt man dortige Experten, ob ihr System ein Vorbild sein könnte, fragen sie fassungslos zurück: "Das wollen Sie wirklich machen?"

Den Ökonomen geht es nicht um Realität

Der Hinweis auf die Praxis nützt übrigens bei richtigen Wirtschaftsexperten ausgesprochen wenig. Man erhält dann von einem Ökonomen einen missliebigen Blick, gefolgt von einem Satz, dass es nicht um Realität gehe, sondern um "den ordnungspolitischen Ansatz".

Ordnungspolitik sagt der Ökonom oft, Ordnungspolitik ist die in einem Wort zusammengefasste Lego-Welt. Manchmal sagt der Ökonom noch, dass Modelle nötig seien, um zu vereinfachen. Er zitiert dann die Londoner Ökonomin Joan Robinson, die sagte: "Ein Modell, das alle Aspekte der Realität erfasst, ist so sinnvoll, wie eine Landkarte im Maßstab eins zu eins."

Der erste Weltkrieg hätte nie ausbrechen dürfen - er war unrentabel

Okay, Okay. Nur warum stimmt oft nicht einmal die Richtung auf dieser Landkarte? Der Erste Weltkrieg hätte nie ausbrechen dürfen, weil Ökonomen ihn für unrentabel hielten. Acht Tage vor dem schwarzen Donnerstag, im Oktober 1929, sagte der Star-Ökonom Irving Fischer, es werde nie einen Börsencrash geben.

Keine einzige der fünf Rezessionen hierzulande hat ein Forscher vorhergesagt, den Internetboom in den Neunzigern auch nicht. Im Herbst 2002 erwarteten die Institute für 2003 ein Wachstum von 1,4 Prozent, tatsächlich schrumpfte die Wirtschaft um 0,2 Prozent und derzeit rätseln alle, warum hierzulande Jobs entstehen. Das Öl ist zu teuer, und Angela Merkel vergeigt die Reformen.

Immer es um den Untergang geht, taucht Meinhard Miegel auf

Im Berliner Regierungsviertel sieht man oft einen älteren Herrn. Er ist groß, hat silbrige Haare und bei seinen Pressekonferenzen sitzen viele Helfer. Sie teilen Mappen mit Schaubildern und Zahlen aus. Es sind immer viele Zahlen. Man sieht den Herrn auch im Fernsehen. Er heißt Meinhard Miegel.

Er taucht zuverlässig immer dann auf, wenn der Untergang des Sozialstaats beschworen werden muss. Am liebsten beschwört er den Untergang der Rente, was vielleicht auch damit zusammenhängen mag, dass er ein Institut berät, das von der Deutschen Bank getragen wird. Banken und Versicherer finden die Rente immer besonders schlecht, weil sie dann gut ihre Versicherungen und Aktien verkaufen können.

Vor kurzem legte Meinhard Miegel eine Rechnung vor, die es in die BildZeitung schaffte. Darin war aufgelistet, wie viel ein Mann oder eine Frau erhält, wenn er 100 Euro in die Rentenversicherung einzahlt. Es war aufgegliedert nach Geburtsjahrgängen von 1940 bis 2040. Daneben stand: "Hier sehen Sie, ob Sie ein Gewinner oder Verlierer sind."

Nach 1990 waren die Männer nur Verlierer. Besonders schlimm wird es im Jahr 2040. Der arme Junge, der dann geboren wird! Er fängt 20 Jahre später an, zu arbeiten und zahlt 2060 seine ersten Beiträge, und wenn er 45 Jahre später in den Ruhestand wechselt, also im Jahr 2105, erhält er von 100 eingezahlten Euro nur 89 Euro heraus. Soweit Miegels Rechnung in Bild.

Keiner kennt die Zukunft - außer Miegel

In den vergangenen hundert Jahren ist viel passiert. Es gab Kriege. Faschismus und Kommunismus kamen und gingen, Mauern wurden durch Länder gebaut und wieder abgerissen. Die Firmen entdeckten die Massenfertigung, Radio, Fernsehen, Computer, Handy, Internet wurden Volksgut, und was die nächsten hundert Jahre bringen, weiß keiner. Außer Meinhard Miegel. Er weiß, dass im Jahre 2105 aus 100 Euro Beitrag 89 Euro Rente geworden sind.

Manchmal werden ökonomische Theorien sogar in der Praxis getestet. Im Jahr 2000 gab es diesen Fall. Damals musste die Regierung neue Mobilfunk-Lizenzen namens UMTS verteilen. Die Ökonomen sagten, die Lizenzen sollten versteigert werden. Eine Firma sollte viel zahlen, wenn sie sich von der Lizenz viel verspricht. Das sei effizient, sagten die Ökonomen.

Das Grab der Mobilfunkbranche

Die Regierung sagte das auch, und so steigerten sich die Firmen in einen Rausch. Am Ende strich der damalige Finanzminister Hans Eichel 100 Milliarden Mark ein und freute sich natürlich wie Bolle. Die Firmen saßen nun auf einem Schuldenberg, sie investierten weniger, schlossen Geschäftszweige, und die Zeitungen schrieben, Hans Eichel habe der Mobilfunkbranche das Grab geschaufelt. Nur von der "effizienten" Versteigerung redete keiner mehr.

Nicht alle Ökonomen leben in Legoland, weswegen meine Zweifel vielleicht irgendwann schwinden. Ich hoffe auf die USA. Dort verstehen sich Ökonomen mehr als Wissenschaftler denn als Ayatollahs in Anzügen. Sie untersuchen, welche Legosteine etwas taugen und welche nicht. Man nennt das Empirie.

Lebensferne Theorien

In Deutschland soll es auch einige dieser Ökonomen geben. Sie sagen, dass es den Homo oeconomicus nicht gibt, und zu diesen klugen Menschen gehört sogar der einzige deutsche Nobelpreisträger für Ökonomie, Reinhard Selten. Er warnt vor lebensfernen Theorien und spricht von "ökonomischem Imperialismus". Aber noch sind Kritiker wie Reinhard Selten sehr, sehr leise. Hoffentlich werden sie lauter. Bis dahin hilft weghören, wenn die Lego-Menschen im Fernseher flimmern und reden.

Übrigens besteht angeblich sowieso noch Hoffnung für uns. Bei der jüngsten Befragung des "World Economic Forum" landete das deutsche Steuersystem nicht mehr auf dem letzten Platz. Sondern auf dem vorletzten.

© SZ vom 16.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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