China:Albtraum im Wunderland

Lesezeit: 6 min

Ob Hugo Boss oder die Hersteller von Zügen, Autos und Medizingeräten: Sie leiden unter einem neuen Protektionismus in der Volksrepublik. Die Lage ist gefährlich.

Von Christoph Giesen und Max Hägler

Als in vielen chinesischen Städten noch der blaue Mao-Drillich getragen wurde, ließ die schwäbische Modefirma Hugo Boss ihren Namen in der Volksrepublik registrieren. Im kommenden Jahr steht also das Jubiläum an: 30 Jahre Boss in China. Die Schwaben sind seitdem zu einer der bekanntesten Marken für die Chinesen geworden. Der Outlet-Verkauf in Metzingen steht bei fast jeder Deutschlandreise auf dem Plan chinesischer Reisegruppen. Was nach einer Erfolgsgeschichte in China klingt, ist in den vergangenen Jahren jedoch zum Albtraum geworden. Das Problem von Boss ist ein Klon. Eine chinesische Modekette ahmt Namen und Schnitte von Boss nach - und das mit Rückendeckung des Staates und seiner Gerichte.

So wie Boss geht es inzwischen vielen deutschen Firmen. Der chinesische Staat leistet immer öfter Schützenhilfe für einheimische Unternehmen. Bei Marken, Patenten, bei der Beschaffung und auch beim Verkauf. Die Öffnung zum Westen scheint sich umzukehren. Noch nie hatte die deutsche Wirtschaft so große Schwierigkeiten im Wunderland China wie heute. Vom Schienenverkehr über die Autohersteller und bis zu Modelabeln wie Hugo Boss, fast alle sind sie betroffen. "Viele Unternehmen haben das Gefühl, dass ihnen Steine in den Weg gelegt werden", sagt Jörg Wuttke. Er ist der Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking.

Die Schwaben verklagten die Nachahmer, hatten aber vor Gericht keine Chance

Der Albtraum der Boss-Manager heißt Bosssunwen. Allein im Großraum Peking gibt es inzwischen mehr als fünfzig Bosssunwen-Läden. Und die Ähnlichkeit ist nicht nur frappierend, sie ist dreist. Das Wort "Boss" im Logo wird ebenfalls in Großbuchstaben, mit den gleichen Serifen geschrieben. Die Anzüge sind fast identisch geschnitten. Auch preislich liegen Hugo Boss und Bosssunwen eng beieinander. Ein Paar Herrenschuhe von Bosssunwen kostet zum Beispiel umgerechnet 390 Euro.

Gibt man den Namen Bosssunwen bei der chinesischen Suchmaschine Baidu ein, stößt man sofort auf Dutzende Diskussionen und immer wieder auf die Frage, ob die beiden Unternehmen zusammenhängen. "Ist das der asiatische Ableger von Hugo Boss?", erkundigt sich jemand. Ein anderer möchte wissen, ob Bosssunwen eventuell eine jüngere Zielgruppe ansprechen soll. Wenn man Bosssunwen befragen will, bekommt man zu hören: "Ihre Anfrage wird niemand beantworten." Und ein Fax? "Wenn es hier keinen interessiert, schmeißen wir es weg."

2014 verklagte Boss den Nachahmer. In Hongkong bekamen die Schwaben recht, der Wettbewerber musste sich umbenennen, Kleidung mit dem Bosssunwen-Logo wurde konfisziert und vernichtet. In China ist das anders. Im Frühjahr 2016 urteilte ein Gericht in Peking, Bosssunwen sei eine in China eingeführte Marke. Boss hätte sich innerhalb von fünf Jahren melden müssen - nun sei es zu spät, heißt es im Urteil. Dabei hatte Boss genau das getan, seit 2004 hatte sich das Unternehmen an etliche chinesische Behörden gewandt, immer wieder vergeblich.

"China greift zunehmend zu einem ausgeklügelten und selektiven Protektionismus", klagt Jost Wübbeke, Programmleiter Wirtschaft und Technologie beim Berliner Mercator Institute for China Studies (Merics). "China will eigene Produkte befördern und ausländische aus dem Markt drängen." Wie die Führung in Peking das anpacken möchte, ist für jeden nachlesbar: "Made in China 2025" heißt der Masterplan der Regierung. Zehn Branchen haben sich die Kader herausgesucht, fast alle technischen Felder decken sie ab. Autos und Züge sowieso, aber auch den Flugzeugbau, die digitalisierte Produktion oder die Pharmaindustrie - überall soll China schon bald führend sein. Mindestens acht von zehn Elektroautos, die in neun Jahren in der Volksrepublik verkauft werden, sollen dann aus heimischer Produktion stammen, so die Vision.

Noch strenger sind die Vorgaben in der Medizintechnik. Im Oktober 2015 legte Chinas Informationsministerium ein Strategiepapier vor. Bis 2020 sollen chinesische Hersteller 600 Milliarden Yuan (80 Milliarden Euro) Umsatz erwirtschaften, fünf Jahre später sollen es bereits 1,2 Billionen Yuan sein. In dem Papier heißt es: "90 Prozent aller hochtechnischen Medizingeräte seien von ausländischen Herstellern. Das ist einer der Gründe, warum es so teuer ist, einen Doktor zu besuchen." Die Konsequenz: Ausländische Hersteller haben inzwischen in China gewaltige Probleme.

In einem jüngst von der Nationalen Kommission für Gesundheit und Familienplanung in Auftrag gegebenen Katalog sind 153 medizinische Geräte empfohlen. Kein einziges davon stammt von einem nicht-chinesischen Hersteller. Siemens, Storz, Braun Melsungen? Fehlanzeige. Selbst europäische Unternehmen, die Forschung und Entwicklung in China betreiben und die Geräte für den chinesischen Markt komplett in der Volksrepublik fertigen, hätten keine Chance, urteilt Kammerpräsident Wuttke. Und Merics-Mann Wübbeke bestätigt, dass es härter geworden sei: "Das Goldene Jahrzehnt ist für viele Unternehmen, die nach China exportieren, vorüber."

Immer mehr Unternehmer beschweren sich deshalb. Die Zahl der Fälle sei massiv gestiegen, man komme bei der Bearbeitung gar nicht mehr hinterher, heißt es in der deutschen Botschaft in Peking. Bei 5000 deutschen Unternehmen in China ist das kein Wunder.

Offen über die Probleme möchte aber kein Firmenchef sprechen, die Abhängigkeit vom China-Geschäft ist bei vielen Unternehmen groß, und die Furcht, den chinesischen Markt zu verlieren, noch größer. Volkswagen zum Beispiel verkauft inzwischen jedes dritte Auto in China. Mancher Mittelständler verschifft gar die Hälfte seiner Jahresproduktion in die Volksrepublik. Einen offenen Konflikt, das kann sich kaum jemand leisten.

Trifft man allerdings die deutschen China-Manager bei ihren für gewöhnlich sehr bierseligen Runden in Peking oder in Shanghai, dann kommen sie ins Plaudern, der Frust über den neuen Protektionismus, er sitzt tief. In diesen Gesprächen stößt man immer wieder auf dieselben Muster. Neue Gesetze, die das Geschäft unmöglich machen. Ein plötzlicher Zwang, alle Betriebsgeheimnisse weiterzugeben. Und schließlich ein Staat, der die heimische Industrie mit allen Mitteln und Tricks schützt, wie in der Medizintechnik, im Fall von Boss oder aber im Schienensektor.

Schon bald soll Chinas erster eigener Schnellzug fahren. Bis zu 500 Kilometer pro Stunde. Bislang sind auf den Strecken in der Volksrepublik noch Abwandlungen des deutschen ICE oder des japanischen Shinkansen unterwegs. Der neue Zug soll hingegen zu hundert Prozent chinesisch sein. Die Wahrheit: Es wird noch immer sehr viel ausländische Technik in den neuen Zügen stecken. Wenn ausländische Hersteller jedoch weiterhin im chinesischen Markt aktiv sein wollen, müssen sie wohl künftig an einen Zwischenhändler verkaufen, der die Komponenten dann leicht modifiziert, sein Logo und ein "Made in China" anbringt. Vorbei die Zeiten, als Importiertes als das Beste galt.

In einigen Branchen, wie etwa dem Nahverkehr, wird inzwischen mit einem Punktesystem gearbeitet, in das Preise und technische Spezifikationen einfließen. Chinesische Hersteller bekommen dann einen Bonus, zum Beispiel von zehn Punkten, deutsch-chinesische Gemeinschaftsunternehmen erhalten noch fünf, ausländische Firmen bekommen keine Zusatzpunkte, selbst wenn sie vollständig in China fertigen, sie gehen dann bei Aufträgen trotz besserer Angebote leer aus. Darüber haben sich mehrere deutsche Unternehmen direkt beim deutschen Botschafter beschwert.

Neben der systematischen Ausbootung von ausländischen Konzernen wird zunehmend versucht, Unternehmen zur Übergabe von technischen Details zu zwingen. "Die Autoindustrie hat in der Vergangenheit bereits viele Zugeständnisse machen müssen. Es musste lokal gefertigt werden und je nach Vertrag bekamen chinesische Partnerfirmen auch die Pläne für einzelne Bauteile. Jetzt aber soll beim Thema Elektromobilität restlos alles übergeben werden. "Das geht an die Wäsche", meint Kammerchef Wuttke.

"In der Tat muss man feststellen, dass China seine eigenen Firmen zu schützen versucht", sagt Mattia Dalla Costa, Anwalt der internationalen Kanzlei CBA Lex. Vor einem Jahrzehnt habe es gewissermaßen die erste Stufe der Öffnung gegeben: das Joint Venture. Diese Gemeinschaftsunternehmen mussten westliche Firmen in etlichen Branchen mit chinesischen Staatskonzernen gründen, um überhaupt Geschäfte machen zu können. In der Autobranche gilt dieser Zwang noch heute. Daimler arbeitet mit der Beijing Automotive Industry Holding (BAIC) zusammen. Volkswagen hat gar zwei staatliche Partner. FAW aus Nordchina und die Shanghai Automotive Industry Corporation (SAIC).

Als besorgte chinesische Eltern Milchpulver aus dem Ausland kauften, gab es dort Engpässe

"Damit sollte Know-how ins Land geholt werden", sagt Patentspezialist Dalla Costa. Nun sei die Volksrepublik allerdings auf einem höheren Niveau angekommen und man könne das Erklimmen der zweiten Stufe beobachten: Immer öfter würden chinesische Firmen Patente anmelden zu Dingen, die eigentliche westliche Joint Venture-Partner ins Land gebracht haben. Das werde oft vom Staat veranlasst, sagt der Anwalt, und selten werde Rücksicht genommen, ob die Sachen nicht bereits geschützt sind. "Das nimmt rasant zu und droht in einigen Jahren zu einem großen Problem zu werden." Zwar behielten chinesischen Patentinhaber nicht immer recht, aber es dauere drei, vier Jahre, um jeweils ein Patent vor Gericht zurückzuerstreiten: "Das ist ein wahnsinniges Hemmnis." Das gilt auch für die vielen neuen Gesetze, die verabschiedet werden. Die deutsche Botschaft ist etwa besorgt über einen Gesetzentwurf, der flächendeckende Zertifizierungen für importierte Lebensmittel vorsieht. International üblich ist das bei Risikolebensmitteln. Die Kontrolle von jedem nach China exportierten Keks könnten deutsche Behörden gar nicht leisten. Diese Exporte kämen dann fast komplett zum Erliegen.

Für manchen Milchpulverhersteller ist das bereits eingetreten. Vor einigen Jahren mussten 300 000 Kinder wegen Nierenproblemen behandelt werden, einige starben sogar, weil ein Hersteller sein Milchpulver mit Melamin gestreckt hatte. Seitdem vertrauen viele chinesische Eltern nur noch auf Milchpulver aus dem Ausland. Die Folge: In vielen Ländern wurde das Milchpulver knapp, da es nach China verkauft wurde. Inzwischen aber verlangen die Behörden, dass die Rezepturen übergeben werden.

Wird man jetzt Betriebsgeheimnisse preisgeben - und trotzdem irgendwann den Zugang zum Markt verlieren? Das ist eine der großen Fragen, die sich Manager ausländischer Firmen in China stellen.

© SZ vom 08.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: