Samstagsküche:Kleinkunst

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Pincho heißt der edlere Bruder der Tapas. Nirgends nimmt man die Häppchen so ernst wie im Nordwesten Spaniens. Die Köche dort liefern sich regelrechte Wettbewerbe. Zur Freude der Gäste.

Von Thomas Urban

"Alles reiner Zufall!", wehrt Jesús Alejos González ab. Gar nichts habe der Name seines Restaurants mit der Bundestagswahl 2005 zu tun. Zufall, dass González im selben Jahr, in dem die Deutschen erstmals eine Bundeskanzlerin wählten, sein Lokal "Angela" im Zentrum der alten kastilischen Königsstadt Valladolid eröffnete. Zufall auch, dass er mit einer großen Auswahl an deutschem Bier wirbt, dass in seinem Logo eine blonde Maid zwei schäumende Krüge stemmt, dass auf den Regalen an der Wand Bierseidel stehen und am Tresen die Wappen deutscher Städte prangen. Angela habe seine Großmutter geheißen, erklärt der Koch, und er möge nun mal deutsches Bier. Das sei schon alles. Und, ach ja, das Bier passe toll zu seinen Pinchos, ebenso gut wie die einheimischen Weine aus dem rauen Kastilien-León.

Damit wäre man beim Thema: Wer als Gastronom auf sich hält in Valladolid, der bietet Pinchos an. Und da ist es hilfreich, wenn sein Lokal ein Konzept hat, das es von den anderen unterscheidet. Das aber gibt man besser nicht zu, schließlich wäre das wenig originell.

Originell zu sein ist für Wirte und Köche jedoch Pflicht dieser Tage, da sich alles in der einstigen Residenzstadt des Königreiches Kastilien um die Pinchos dreht. Das Wort bedeutet eigentlich Spieß, es bezeichnet die kleinen, meist mit Hingabe komponierten Häppchen, die vor allem in Nordspanien beliebt sind, ob als Imbiss für den kleinen Hunger oder als Amuse-Gueule zu Wein oder Bier. Dabei werden stets mehrere Zutaten kombiniert. Pinchos sind also eine Art künstlerische Luxusvariante der Tapas, der berühmteren, aber oft nur aus einer Speise bestehenden und eher schlicht zubereiteten spanischen Häppchen.

Derzeit steht die regionale Pincho-Meisterschaft an, für viele Köche in Valladollid der wichtigste Termin des Frühjahrs. Zwanzig Kandidaten haben die Endrunde des Vorentscheids erreicht; Austragungsort ist die Milleniumskuppel, ein futuristischer Ausstellungssaal, der mit dem Kugeldach aus sechseckigen Waben aussieht wie ein durchgeschnittener Fußball. Auch Jesús Alejos González, der Koch des "Angela", ist dabei. Er wirkt zuversichtlich, schließlich war er hier schon öfter erfolgreich.

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(Foto: ROY Philippe/hemis.fr/FOTOFINDER.COM)

Pinchos überall: Bars in Valladold, die kulinarisch auf sich halten, nutzen den Platz auf dem Tresen ausschließlich für Häppchen.

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(Foto: Cesar Manso/AFP)

Der edlere Bruder der Tapas: Ein Koch legt bei Pinchos letzte Hand an.

Liebend gern, sagt er, würde er die deutsche Kanzlerin eine seiner preisgekrönten Kreationen probieren lassen, die "Angela-Wolken" (Nubes de Angela) etwa, mit denen er 2008 in der Kategorie "Kalte Pinchos" siegte: Aus einem Teighörnchen für Speiseeis, in dessen Spitze ein Loch gebohrt wurde, tröpfelt eine Sauce auf Würfel aus Schwertfischfilet. Oder das ein Jahr zuvor in der warmen Kategorie erfolgreiche "Angela-Gehöft" (Caserio de Angela), eine Kombination aus Spitzbeinwürfeln vom Schwein, gefüllt mit Leber und umwickelt mit kross gebratenen Speckstreifen.

Wer hier ins Finale kommt, gibt den Takt der nächsten Saison vor. In vielen Bars hängen Plakate mit Fotos der Gewinner aus den vergangenen Jahren. Wohlgemerkt: Man sieht darauf nicht die Köche, sondern die Pinchos; mehr als fünf Dutzend sind dieses Jahr in das Rennen um den "goldenen Pincho" der Region gegangen. Die meisten Bars im Zentrum bauen die Kreationen der Finalisten nach, nicht nur die Kundschaft, sondern auch die lokalen Medien diskutieren sie ausführlich. Und aus dem ganzen Land reisen Gourmets an, um die Beiträge zu testen. Der Sieger erhält eine vergoldete Bronzeskulptur, die Gürkchen, Filetstreifen, Muscheln, Kirschtomaten und andere beliebte Zutaten am Spieß naturgetreu darstellt, natürlich in Originalgröße. Und die vier Erstplatzierten qualifizieren sich für den nationalen Wettbewerb, was im Grunde als Witz gilt, schließlich zweifelt hier keiner daran, dass ein nationaler Pincho-Sieger stets aus Valladolid stammen muss.

Zwar verlegte der in den Mauern der Stadt geborene düstere König Philipp II. aus dem Geschlecht Habsburg seine Residenz einst nach Madrid - doch geblieben ist Valladolid die Hauptstadt der Pinchos. Geschenkt, dass man das nicht überall in Spanien so sieht, vor allem nicht im Baskenland, der Region mit der höchsten Dichte an Sterne-Restaurants. Denn auch das mondäne San Sebastian und die baskische Hauptstadt Vitoria-Gasteiz nehmen für sich in Anspruch, Weltzentren dieser kulinarischen Kleinkunst zu sein. In Valladolid schaut man jedoch entspannt auf die Basken. "Bei uns sind es Pinchos, bei ihnen Pintxos", sagen sie in einer der Bars gegenüber der mächtigen Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale - ein kleiner ironischer Schlenker, denn ausgesprochen wird das baskische Wort genauso wie das spanische.

Und was die baskischen von den kastilischen Pinchos unterscheidet, wissen selbst die Fachleute nicht zu sagen. Nur so viel: Es ist der größte mögliche Triumph, wenn ein Koch aus Valladolid bei einer Pincho-Meisterschaft in San Sebastian oder in Vitoria-Gasteiz siegt. Umgekehrt ist es ein Stich in das Herz der Ex-Hauptstädter, wenn ein Baske oder gar ein Madrilene in Valladolid zur Nummer eins erkoren wird. Nur höchst ungern erinnert man sich hier an das Jahr 2011. Damals siegte ein Madrilene. Mit einer Kreation, über die sie in Valladolid lange diskutierten: "Gute Nachrichten aus Spanien" hieß die gefüllte Teigrolle, die in eine Miniaturausgabe der Lokalzeitung El Norte de Castilla gewickelt war, die wiederum aus mit Lebensmittelfarbe bedrucktem Esspapier bestand. War dies nun eine Ehrbezeugung oder Spott aus der heutigen für die ehemalige Hauptstadt?

Immerhin sind die Wettbewerbsbedingungen im ganzen Land gleich: Ein fertiger Pincho sollte trotz allen Aufwands in den Bars für nicht mehr als zwei Euro angeboten werden. Dies bedeutet, dass die Obergrenze für die Zutaten pro Stück bei 1,80 Euro liegt. Bei der Endausscheidung sieht man dann auch Juroren, die mit dem Taschenrechner die Kosten überschlagen. "Pinchos waren einst die schnellen Happen für die einfachen Leute", betonen die Honoratioren in jeder Ansprache zur Eröffnung des Wettbewerbs. Man ist durchaus stolz, dass sie es zum Kunstwerk gebracht und Karriere bei den Feinen und Betuchten gemacht haben. Doch erinnert man in Valladolid gern an die Ursprünge, schließlich ist man als wichtiges Industriezentrum auch Arbeiterstadt.

Hinter den Kulissen wird erhitzt diskutiert: Dürfen japanische Bambussprossen, chinesische Algen oder indonesische Mangos die Pinchos verfeinern, oder sollen es nur regionale Produkte sein? Es ist die kulinarische Fortsetzung des klassischen Streits zwischen Traditionalisten und Erneuerern, der das spanische Kulturleben über Jahrhunderte prägte, auch in Literatur und Malerei: Wie stark wird das Visuelle, also Farbe und Form, gewichtet? Übertragen auf die Pinchos heißt das: Wie soll das Verhältnis zwischen Augen und Gaumen sein? Einige Traditionalisten stören sich an dem Trend, die Gemüse-, Käse-, Teig-, Fleisch- und Fischhäppchen mit zusätzlichem Geschirr und sonstigen Hilfsmitteln zu komplizierten architektonischen Gebilden aufeinanderzutürmen. So wie bei González' "Angela Wolke", bei der das Teighörnchen mittels einer Glas-Plastik-Konstruktion gehalten wurde.

(Foto: N/A)

Doch längst haben die Innovatoren die Oberhand, so wie die Sterneköche aus dem Baskenland und Katalonien, die seit Jahren als kulinarische Avantgarde internationale Preise abräumen und für ihren Wagemut mit Sternen belohnt werden. Auch bei den Pincho-Wettbewerben in Valladolid werden die Kreationen immer aufwendiger. Vor sechs Jahren wurden die (nicht mit dem Angela-Koch verwandten) Brüder Antonio und Javier González Regionalmeister mit der Komposition "Obama im Weißen Haus": ein Gericht aus gekochten Kartoffeln mit Ei und Steinpilzcreme, mit Tinte vom Kalmar schwarz eingefärbt und in einer Mini-Terrine serviert. Mit politischer Korrektheit, auch so viel ist klar, hat die Pincho-Avantgarde im rustikalen Nordkastilien nichts am Hut.

Zudem war "Obama im Weißen Haus" eine Kreation, die Angela-Koch und Deutschlandfan Jesús Alejos González als Konkurrent nicht gutheißen kann. Das ist ja fast so platt, als würde er Salzkartoffeln und Matjeshering, angeblich ein Lieblingsgericht Merkels, unter einer Kuppel aus essbarer Reisfolie mit dem Titel "Bundeskanzlerin im Reichstagsgebäude" servieren. Und das käme ihm nun wirklich nie in den Sinn.

© SZ vom 09.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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