Samstagsküche:Coucou, wir sind noch da

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Frankreichs Küche gilt seit dem kulinarischen Aufstieg anderer Länder als wenig innovativ. Zu Unrecht. Auch die Wiege der Haute Cuisine hat längst damit begonnen, sich neu zu erfinden.

Von Patricia Böhm

Weiß gedeckte Tische im Schatten uralter Kastanien, ein apricotfarbenes Landhaus, Teil einer Abtei aus dem 12. Jahrhundert. Halb verborgen hinter einer Reihe Zypressen ein großer Küchengarten, in dem - unter anderem - ein Dutzend alte Tomatensorten und 15 Sorten Basilikum gedeihen. Ein Kellner serviert die Vorspeise: frische Tintenfischchen aus dem nahen Mittelmeer, nur 30 Sekunden in der Pfanne gegart, dann mit Weißwein abgelöscht. Vom Tisch aus kann man den Koch beobachten, wie er im Garten frische Thymian- und Rosmarinzweige schneidet, um damit ein Maishuhn aus dem Südwesten Frankreichs zu aromatisieren. Zur Vollendung gebraten, wird es später auf der Terrasse am Tisch tranchiert, sein saftiges Fleisch begleitet ein Salat von Zitrusfrüchten.

Die Terrasse der "Hostellerie de l'Abbaye de La Celle" ist voll besetzt - wie jeden Mittag und jeden Abend. Alles zum Besten also, frei nach Voltaire, in der besten aller kulinarischen Welten? Nicht ganz, findet Alain Ducasse.

Der einflussreichste Koch Frankreichs, zu dessen Gastro-Imperium auch die provenzalische Abbaye gehört, empfindet seit einiger Zeit das dringende Bedürfnis, sich als Lobbyist der französischen Haute Cuisine zu betätigen. Denn auch wenn in Frankreich die Restaurants nach wie vor bestens besucht sind (außer in Paris seit den Terroranschlägen, aber das ist ein anderes Thema), auch wenn die Produkte nach wie vor Weltklasse sind, fühlen sich Ducasse und seine Kollegen nicht genügend gewürdigt. Die mediale Aufmerksamkeit hat sich abgewandt von der großen kulinarischen Nation, seit nacheinander der Katalane Ferran Adrià mit der sogenannten Molekularküche, der Däne René Redzepi mit der neuen nordischen Küche und derzeit die Südamerikaner im Fokus der kulinarischen Berichterstattung stehen.

Das war ein harter Schlag für die Franzosen. Man hatte sich an die kulinarische Meinungsführerschaft gewöhnt, seit in den 70er-Jahren eine Riege von Köchen um ihren charismatischen Anführer Paul Bocuse die Botschaft der Nouvelle Cuisine in die Welt hinaustrugen. Noch in den 90er-Jahren wurden Grands Chefs wie Alain Ducasse, Michel Bras, Alain Passard, Joël Robuchon, Olivier Roellinger und Michel Guérard gefeiert - als Kronzeugen für die Vielseitigkeit, den Reichtum und den Innovationsgeist der französischen Küche. "Man hat sich in Frankreich vielleicht etwas zu sicher gefühlt", sagt Alain Ducasse. "Wir leben im Zeitalter der Kommunikation. Es genügt nicht, ein ausgezeichnetes Produkt zu haben, man muss auch darüber reden. Andere Länder, die kulinarisch weniger zu bieten haben als wir, haben uns in punkto Kommunikation überholt. Höchste Zeit zu sagen: Coucou, wir sind auch noch da!"

Als Marketingstratege hat Ducasse in den vergangenen Jahren einiges ins Rollen gebracht, um die französische Küche wieder ins Gespräch zu bringen. Im Frühjahr 2015 gewann er gar den Außenminister als Schirmherr für seine Aktion "Goût de France", deren Auftaktveranstaltung er in der pompösen Salle des Batailles in Versailles inszenierte. Weltweit folgten auch dieses Jahr 1700 Köche seinem Aufruf, am 21. März ihren Gästen ein Menü in der großen französischen Tradition zu servieren.

Zu Tisch bitte: So warb weiland Paul Bocuse für sein Menü - ein wenig pompös, ein wenig in die Jahre gekommen, aber nicht ungemütlich. (Foto: Martin/Le Figaro Magazine/laif)

Der größte Stachel im Fleisch der französischen Köche kommt nicht aus den neuen kulinarischen Vorzeigenationen Spanien, Dänemark oder Peru, sondern aus England. "The World's 50 Best Restaurants", die von einem wenig bedeutenden britischen Fachmagazin 2002 eher zufällig erfundene Rangliste, entwickelte (nicht zuletzt dank des Marketingbudgets eines großen Nahrungsmittelkonzerns) im Lauf der Jahre eine erstaunliche Medienmacht. Das Problem aus Sicht der Grande Nation: Sie spielt dort kaum eine Rolle. Aktuell sind nur drei französische Lokale ("Mirazur" in Menton an der Côte d'Azur sowie "L'Arpège" und "Le Septime" in Paris) vertreten.

"Der französischen Küche geht es bestens, aber man will uns das Gegenteil glauben lassen", klagt David Sinapian, Präsident der Vereinigung "Traditions & Qualité - Les Grandes Tables du Monde", in der weltweit 188 hoch dekorierte Restaurants mit französischer Küchentradition organisiert sind (darunter zwölf deutsche). "Wir haben in Frankreich eine gastronomische Vielfalt, die weltweit einzigartig ist. Und wir haben eine großartige Natur - Karotten aus der Drôme schmecken einfach viel intensiver als die aus Dänemark." Die geringe Präsenz französischer Köche in der 50- Best-Liste, so Sinapian, sei systemimmanent. "Die Liste funktioniert vor allem über kulinarisches Marketing." Er weist darauf hin, dass das Ranking weniger auf Restauranttests als auf Meinungsmache beruht und in Fachkreisen umstritten ist. Der Erfolg der skandinavischen Küche etwa rühre nicht zuletzt daher, dass die dortigen Regierungen viel Geld in Öffentlichkeitsarbeit steckten. Sinapian nennt weitere Beispiele: "Bald wird man Mexiko als neue kulinarische Destination feiern. Warum? Weil die mexikanische Regierung drei Millionen Dollar in das Ranking ,Latin America's 50 Best Restaurants' investiert hat. Und das australische Fremdenverkehrsamt sponsert die Präsentation der Liste im nächsten Jahr in Melbourne - australische Köche dürften damit gut vertreten sein."

Auch auf französischen Tellern darf das Gemüse immer häufiger die Hauptrolle spielen

Man kann von "der Liste" halten, was man will, sie demonstriert vor allem eines: Wer heute als Koch oder als kulinarische Nation erfolgreich sein möchte, braucht eine professionelle und globale Kommunikationsstrategie. Denn man kann es auch so sehen: Die neuen kulinarischen Nationen werden derzeit für vieles gefeiert, was in Frankreich längst selbstverständlich - und deshalb nicht mehr nachrichtenwürdig - ist. Die große Welle einer neuen Regionalküche nach nordischem Vorbild oder dem Ideal der kalifornischen Locavore-Bewegung? Nun, in Frankreich setzte man schon immer auf besondere heimische Produkte - und machte so Geflügel aus der Bresse, Trüffel aus dem Périgord oder Steinbutt aus der Bretagne weltberühmt. Der anhaltende Flirt der Spitzenküche mit Asiens Aromen? Frankreichs Topköche, von denen viele eigene Restaurants in Japan führen, woben fernöstliche Aromen schon in ihre Küche ein, als man hierzulande noch nicht einmal wusste, wie man Dashi oder Yuzu buchstabiert. Auch der derzeitige Trend des Casual Fine Dining, also anspruchsvolle Küche in betont entspanntem Ambiente, nahm seinen Anfang auch mit der sogenannten Bistronomie-Bewegung, als sich in den Nullerjahren immer mehr junge, bestens ausgebildete Köche in Paris selbständig machten.

Männer wie Yves Camdeborde oder Iñaki Aizpitarte, die in "Le Comptoir du Relais" und "Le Chateaubriand" Néo-Bistrots der ersten Stunde eröffneten, wollten zeigen, dass die französische Küche nicht nur für eine große Vergangenheit, sondern auch für eine spannende Gegenwart steht, dass sie nicht etwa Museum, sondern eher Ideenlabor ist. Sie brachten das berühmte Leitmotiv der cuisine d'auteur, der kreativen Autorenküche, in ihre Bistrots ein, übersetzten es in einen unprätentiöseren Stil, der zwar auf dem Savoir-faire berühmter Vorgänger beruhte, aber mit einer der scheinbar ehernen Regeln der Haute Cuisine brach: dem Hang zu Luxusprodukten.

(Foto: N/A)

Nicht zuletzt im Zuge der wirtschaftlichen Krise begann etwa Gemüse in den angesagten Restaurants eine viel größere Rolle zu spielen, es musste nicht mehr unbedingt das teure Filet sein, man entdeckte den Charme von Innereien oder "zweitklassigen" Cuts wieder. Die Stars der Néo-Bistrot-Szene wie Bertrand Grébaut (Chef im "Septime"), Sven Chartier ("Saturne"), David Toutain ("David Toutain") oder Akrame Benallal ("Akrame") machen heute in Paris mindestens so viel von sich reden wie die "Grandes Toques", die hochausgezeichneten Stars.

Doch auch in der Drei-Sterne-Liga setzt man sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinander. Bestes Beispiel: die französische Saucenkunst. "Saucen waren aus dem Fokus geraten", sagt Drei-Sterne-Koch Yannick Alléno. "Sie galten als zu aufwendig in der Zubereitung, zu schwer, zu fettig, wenig ästhetisch auf dem Teller." In Allénos Restaurant "Ledoyen" an den Pariser Champs-Élysées kommen heute nur noch ultraleichte, geschmacklich hochkonzentrierte Jus auf den Tisch, deren geballte Aromatik er mithilfe ausgeklügelter Küchentechnologie aus Gemüse, Fisch oder Fleisch gewinnt.

Auch seine Kollegin Anne-Sophie Pic in Valence findet Wege, die Tradition mit Spannung aufzuladen und zeitgemäß zu interpretieren. Bretonischer Hummer etwa lässt sich völlig neu entdecken, wenn sie ihn in einer Dashi auf Basis roter Früchte von Himbeere über Cassis bis Rote Bete serviert. Und die berühmte Tarbouriech-Auster inszeniert sie in einer federleichten Infusion im Stil eines Irish Coffee, dessen leicht bittere Aromen mit den jodigen Noten der Meeresfrucht spielen. Und bei Anne-Sophie Pic findet derlei Kreativität vor dem Hintergrund großer Tradition statt: Schon ihr Vater und Großvater hatten drei Sterne, der Gast bekommt sozusagen das Savoir-faire aus drei Generationen mitserviert. Das gibt es so tatsächlich nur in Frankreich.

© SZ vom 17.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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