Großbritannien:Da blüht was

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Eine Frau und aus Deutschland! Als Chefgärtnerin im Inner Temple Garden in London bricht Andrea Brunsendorf gleich mit mehreren Tabus der britischen Gartentradition.

Von Alexander Menden

Andrea Brunsendorf hat gefiederte Eindringlinge entdeckt. "Oh nein, die Tauben fangen an, die Wisteria zu fressen!", sagt sie und springt von der Bank hoch, auf der sie sich eben erst zum Gespräch niedergelassen hat. Tatsächlich: Ein Ringeltaubenpärchen ist zwischen den violetten Blüten des Blauregens gelandet, der sich hinter der Bank an einer Backsteinmauer emporrankt. Gierig zupfen die Tiere daran. Brunsendorf hebt einen kleinen Zweig vom Boden auf, zielt und schleudert ihn mit geschmeidiger Bewegung nach einem der Vögel. Treffer. "The bastards", murmelt sie, bevor sie sich wieder hinsetzt.

Eine Szene kurzer, aber ungewöhnlich reger Aktivität ist das an diesem lauen Londoner Sommernachmittag. Ringsum lagern gut angezogene Damen und Herren auf Bänken und dem Rasen des Inner Temple Garden, verzehren Sandwiches, blättern in Unterlagen oder Zeitungen. Platanen spenden Schatten, entlang der Mauer lugen Osterglocken und Tulpen aus mit Hartzinn ummantelten Kübeln und wippen in der Brise, die von der Themse herüberweht.

Seit sieben Jahren sorgt Andrea Brunsendorf dafür, dass hier alles gepflegt und idyllisch bleibt. Sie ist Chefgärtnerin der Anlage, die sich zwischen Embankment, dem Themse-Nordufer, und den Königlichen Gerichtshöfen im Londoner Juristendistrikt erstreckt. Der Inner Temple ist eine von vier Anwaltskammern der sogenannten "Inns of Court". Sie sind hier schon seit dem Hochmittelalter angesiedelt und bilden das Herz der britischen Rechtsprechung. Seinen Namen verdankt der Inner Temple dem Orden der Tempelritter, der hier seinen Sitz hatte, bevor der König im 14. Jahrhundert das Areal übernahm. Und wie die Welt der Templer ist auch die der Barristers, wie die Mitglieder der Anwaltskammern heißen, eine sehr traditionelle, sehr männliche.

Ein Einheimischer wäre womöglich schon von der Besetzung des Auswahlkomitees eingeschüchtert gewesen

Dass die gebürtige Thüringerin Andrea Brunsendorf nun hier bei Planung, Bepflanzung und Pflege das letzte Wort hat, ist in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert. Sie ist seit 1546, der ersten urkundlichen Erwähnung eines "head gardener" im Inner Temple, die erste Frau, die diesen Posten bekleidet. In vielem wirkt sie mittlerweile ziemlich britisch. So kostet es sie im Gespräch manchmal ein bisschen Mühe, die hortikulturellen Fachbegriffe, mit denen sie täglich auf Englisch hantiert, ins Deutsche zu übertragen. Und die Strohhut-Leinenhemd-Kombi, die sie an diesem Nachmittag trägt, geht ohne Weiteres als englische Gärtneruniform durch.

Aber an so manche lokale Eigenheit wird sie sich wohl nie anpassen. Bei den grenzpathologisch tierfreundlichen Mittelschicht-Briten wäre es zum Beispiel undenkbar, Ringeltauben per Stöckchenwurf aus Kletterpflanzen zu vertreiben. Und während manche Gartenbesitzer die Fuchsplage, die seit Jahren in London herrscht, durch Zufüttern noch verschlimmern, hat Andrea Brunsendorf ihren Cockerspaniel Boris darauf trainiert, jeden Fuchs, der im Garten auftaucht, Richtung Embankment zu jagen. "Der Hund ist übrigens nach dem Schachspieler Boris Spasski benannt", bemerkt sie, "und nicht Boris Johnson". Denn auch die Zuneigung der englischen Mehrheit zu Londons gewieft populistischem Bürgermeister teilt sie nicht.

Nicht nur der Bowler Hat gehört fest zur britischen Kultur, sondern auch die Chelsea Flower Show. Die Gartenmesse findet jedes Jahr im Mai statt. (Foto: Dan Kitwood/Getty Images)

Der Weg nach London war alles andere als geradlinig. Gärtnerin sei sie ohnehin "mehr aus Protest" geworden, sagt Andrea Brunsendorf. Geboren im thüringischen Mühlhausen, hätte sie gern Literatur studiert. Aber ihre Eltern fürchteten zur Wendezeit, das sei nicht solide genug, und hatten sich eine Banklehre in den Kopf gesetzt. Viel zu langweilig. "Die Gärtnerei habe ich mir ausgesucht, weil meine schönsten Kindheitserinnerungen die an die Zeit im Schrebergarten meines Großvaters waren." Sie machte ganz ordentlich ihren Facharbeiterbrief im Zierpflanzenbau - "keine Ahnung, wo ich den habe" - und begab sich dann auf die Walz: Mit 9 000 Euro Begabtenförderung der Landwirtschaftskammer in der Tasche ging sie zunächst nach Südafrika, eine Art pflanzlicher Multikulti-Erfahrung, mit der sich die Welt für sie öffnete. Den tiefsten Eindruck hinterließen die Longwood Gardens in den USA. Der Botanische Garten in Philadelphia sei für sie bis heute unerreicht, sagt Andrea Brunsendorf. "Das ist absoluter High-End-Gartenbau". Auch in England gebe es nichts damit Vergleichbares, nicht einmal die berühmten Kew Gardens. Dort machte sie zum Abschluss ihrer Wanderjahre eine dreijährige Ausbildung und parallel dazu einen Master in Naturschutz am Londoner University College.

Der Chefposten im Juristendistrikt war gleich der erste Job, um den sich die damals 27-Jährige bewarb. Vielleicht kam ihr dabei eine gewisse Unbekümmertheit zugute. Ein Einheimischer wäre womöglich schon von der Besetzung des Auswahlkomitees eingeschüchtert gewesen. Es bestand aus einem High Court Judge, einem "Kronanwalt" - dieser Titel ist nur besonders erfahrenen Juristen vorbehalten - sowie dem Gartenschau-Direktor der Royal Horticultural Society, der ältesten und ehrwürdigsten Gartenbaugesellschaft Englands. Statt nur auf Fragen zu antworten, stellte die Bewerberin selbst welche. Zum Beispiel die, was die Gartenfreunde des Inner Temple eigentlich von ihrem Garten erwarteten? Denn was sie vorgefunden hatte, war ein "etwas ausgelaugter Park", wie sie sagt. "Im April wurden nur ein paar Geranien gepflanzt, keine Frühjahrspflanzen, der Rasen unter den Bäumen war ein bisschen kahl", erinnert sie sich heute.

Frisch aus der Ausbildung gleich in die Chefrolle zu wechseln, das war nicht einfach. Doch innerhalb von zwei Jahren, und nach taktvollen Verhandlungen mit den Hausherren, hatte sie vieles nach ihren Vorstellungen umgestaltet. Mittlerweile sind die Geranien durch eine Vielzahl von Pflanzen abgelöst, unter denen nicht nur Blumen wie Astern und Rosen, sondern auch Kräuter wie Verbena und Salbei sind. Andrea Brunsendorf wohnt in einer Gärtnerwohnung auf dem Gelände des Inner Temple, zwei bezahlte Assistenten und einige Freiwillige helfen ihr bei der Arbeit.

Eines der Prinzipien der Royal Horticultural Society lautet: "Gartenbau kennt keine Nationalität." Dennoch - dass einer Ausländerin diese Aufgabe übertragen wurde, ist bemerkenswert. Denn bei aller Weltoffenheit wird Gartenbau als eine Art britischer Existenzform betrachtet. Nicht umsonst sagte Winston Churchill: "Krieg ist die natürliche Beschäftigung des Menschen. Krieg - und Gartenbau." Und ebenso wie die Struktur der britischen Armee ist auch der britische Gartenbau stets eine Frage der Hierarchie gewesen. Der Adel und seine Gartenarchitekten prägen den Stil, die Mittelschicht imitiert ihn. Feudale Gärten wie Sissinghurst oder Chatsworth sind bis heute Vorbild für Privatgärten. Auf diese Weise werden Status, Anspruch und Glamour großer Anwesen ins Bürgerliche übertragen.

Was das Klassenbewusstsein der Briten angehe, sagt Andrea Brunsendorf, sei es sogar von Vorteil, ein Außenseiter zu sein. Denn der Gärtner werde oft noch immer in einer Domestikenrolle gesehen: "Ich habe mich vor Kurzem mit einem Richter unterhalten, der ganz erstaunt war, als ich ihm erzählte, dass ich gerade in einem Bach-Konzert gewesen war." Auf diese Weise Erwartungen zu unterlaufen, mache manches leichter.

"Ein Garten sollte alle Jahreszeiten spiegeln. Gerade hier, wo die Winter so mild sind."

Den Gipfel klassenbewusster Geschmacksbildung stellt die fünftägige Chelsea Flower Show dar, eines der wichtigsten gesellschaftlichen Londoner Events. Hier werden jeden Mai einige der von den weltbesten Garten-Designern und Landschaftskünstlern gestalteten "Show Gardens" prämiert; die Gartenschau wird live im Fernsehen übertragen. Seit 1913 veranstaltet die Royal Horticultural Society die Flower Show auf dem Gelände des Royal Hospital in Chelsea. Vorher, von 1888 bis 1911, war diese Leistungsschau in Andrea Brunsendorfs heutigem Refugium beheimatet, im Garten des Inner Temple. Dass sie umziehen musste, lag an den Barristers, unter deren Fenstern sich die Schau alljährlich abspielte. Den Anwälten war das alles viel zu laut, zudem fühlten sie sich durch die Ausdünstungen des Düngers belästigt.

Heute wäre das Ganze ohnehin viel zu groß für die Temple Gardens. Aber der Chefgärtnerin ist es ganz recht, dass die Flower Show drüben in Chelsea stattfindet, denn sie hält sie eher für ein exklusives Gesellschaftsevent als für ein bedeutendes hortikulturelles Ereignis. "Das ist ein Moment im Mai - aber ein Garten sollte doch alle Jahreszeiten spiegeln", findet Andrea Brunsendorf. "Gerade hier, wo die Winter so mild sind."

Doch die Arbeit in England hat für Andrea Brunsendorf Vorteile, die weit über die klimatischen hinausgehen. "Man kann spielerischer an die Gartengestaltung herangehen", sagt sie. "Die Auftraggeber schauen nicht allein darauf, dass alles effizient und preisgünstig ist. Kreativität wird sehr hoch geschätzt." Und man komme über den Gartenbau mit jedem schnell ins Gespräch, denn die Faszination für die eigene Grünfläche vereint die Briten über Generationen- und Klassengrenzen hinweg.

Während ihrer Zeit im Inner Temple hat Andrea Brunsendorf sich einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Es gibt immer mal wieder Abwerbungsversuche. Aber ihr Vertrag ist unbefristet. Und ein bisschen Zeit will sie schon noch hier verbringen: "Um zu lernen - und zu experimentieren."

© SZ vom 16.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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