Fashionspießer zum Schlauchschal:Schleichende Erdrosselung durch Kaschmirfasern

Fashionspießer

Ein Ungetüm aus Wolle, mehrfach um den Hals gewickelt und nie so richtig passend: der Schlauchschal.

(Foto: Daniel Hofer)

Fällt die Temperatur unter die 20-Grad-Grenze, verwandelt sich die Fußgängerzone zum Boulevard für Vogelwesen. Dann wird eine gestrickte Unsitte ausgepackt, die auf kratzende Kehlen aufmerksam macht: der Schlauchschal. Eine Modekolumne.

Von Christina Metallinos

Fast alles hat ein Ende, die meisten Schals haben sogar zwei. Der Schlauchschal ist dagegen ein Exot. Wie der Name schon sagt, ist er schlauchförmig gestrickt, ohne Anfang und somit auch ohne Ende. Deshalb muss er nicht erst kunstvoll verknotet werden, um am Hals zu bleiben, sondern kann einfach über den Kopf gezogen und gewickelt werden. Klingt praktisch? Ist es nicht.

Der Schlauchschal provoziert, genau wie andere Schals, die pseudosorgsame Nachfrage, ob man denn erkältet sei. Doch besonders an der Endlosvariante ist die echte Sorge um den Rücken manch einer Trägerin. Denn Schlauchschal-Fans haben nur auf den ersten Blick etwas mit einem Rotkehlchen gemein, das keck seinen bunten Hals zur Balz vorstreckt. Tatsächlich macht der Schlauchschal seine Trägerin zum Hühnchen aus Turbomast, das aufgrund der herbeigezüchteten Brustmuskeln kaum noch gerade laufen kann: Die schiere Menge an um den Hals drapierter Wolle lässt sie wirken, als würde sie gleich vornüberkippen.

Je öfter man sich den Schal um den Kopf wickelt, desto größer wird der gestrickte Vogelkropf am Menschenhals. Und diese Beklemmung. Fühlt sich die Luftröhre nicht irgendwie eingeengt an? Ob das nun an der beginnenden Mandelentzündung liegt? Lieber noch ein paar Tropfen Medizin schlucken?

Exekution durch Accessoires

Mittelalterliche Despoten hätten den Schlauchschal geliebt. Aber aus ganz anderen Gründen als die praktisch veranlagten Fashionistas aus der Fußgängerzone. Während Missetäter damals noch am unbequemen, rauen Hanfseil am Galgen baumeln mussten, werden Schalträgerinnen zum Opfer einer viel perfideren Art der Hinrichtung - der allmählichen Erdrosselung durch Kaschmirfasern.

Aber ist der Schlauchschal wirklich so unnütz? Immerhin: Wer ihn trägt, macht sich nicht zur Zielscheibe für blutdurstige Vampire. Und der Schal verdeckt Knutschflecke. Er ist sogar so effektiv und hüllt einen dermaßen ein, dass man keine neuen hinzubekommen kann.

Selbst wenn auch nur ein Fleckchen Haut frei zur Kusslandung wäre - die vom Schlauchschal zerstörte Frisur hebelt endgültig jeden balzrelevanten Vorteil für die Trägerin aus. Beim Herumwickeln des Schals geraten Pferdeschwanz und Dutt ins Wanken oder fallen auseinander. Und auf dem schier endlosen Weg vom Scheitel bis zur Schulter verfangen sich all die sorgsam drapierten Haarspangen in jeder Masche. Trägt man seine Haare offen über dem Schal, wird das Drama nur noch größer. In diesem Fall wirkt die Frisur dank Schal wie ein missglückter Versuch mit Mamas XXL-Lockenwicklern aus den Siebzigern. Damals, als alle wie Farrah Fawcett aussehen wollten.

Nabelschau im Winter

Das einzige Gegenmittel: Den Schal anders wickeln. Nämlich so, dass er einem bis zum Bauchnabel herunterhängt. So hat die Nackenmuskulatur wieder etwas zu tun und muss den Kopf wieder aus eigener Kraft gerade halten. Aber: Warm hält er so nicht mehr und gegen die beginnende Erkältung bringt er also auch nichts.

Selbst wenn ein Modestück praktisch wirkt, besteht kein Zwang zur Zweckmäßigkeit. Doch die etlichen Nachteile dieser Halskrause lassen nur eine Frage zu: Warum?

Vermutlich gibt es einen Zusammenhang zu einem weiteren Trend der vergangenen Winter, nämlich dem DIY-Strick-Chic. Seit dem Vormarsch von Dawanda und der Rückkehr zu Omas Blümchengeschirr und Stricknadel am Kamin fühlen sich plötzlich auch diejenigen zum Stricken berufen, die sich im Handarbeitsunterricht lieber auf das Falten von Papierfliegern beschränkt haben.

Der Schlauchschal, auf Englisch "Infinity Scarf", bietet für Anfängerinnen an der Nadel einen entscheidenden Vorteil. Anstatt Reihe für Reihe zu stricken, können sie hier einfach in Runden Masche für Masche in schierer Unendlichkeit aneinanderhängen. So müssen sie keine Angst haben, in der nächsten Reihe eine Masche zu vergessen. Dass der Unendlichkeitschal beim zweifachen Umwickeln des Halses auch noch die Form einer liegenden und zusammengefalteten Acht einnimmt, ist da eine fast schon perfekte Symbolik. So wie in der Liebesgeschichte des Jane-Austen-Romans, der es einer verfrorenen Schlauchschalträgerin nach dem langen Tag in der Fußgängerzone noch einmal ganz warm werden lässt - nämlich ums Herz.

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