Essen und Trinken:Uralte Schule

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Das deutsche Restaurant "Horcher" in Madrid ist nach dem Wegzug aus Berlin 1943 so legendär wie umstritten. Eine Museumsführung.

Von Georg Etscheit

Linsensuppe mit Würstchen, Ochsenschwanzragout, Räucheraal mit Meerrettich - die Gerichte erinnern eher an die norddeutsche Provinz als an Madrid. Doch wer bei "Horcher" an der vornehmen Calle Alfonso XII. im Herzen der spanischen Hauptstadt die Speisekarte studiert, stößt nicht zufällig auf klassische deutsche Küche. Im Berlin der 20er- und 30er-Jahre war "Horcher" eine Top-Adresse, eine kulinarische und gesellschaftliche Institution. Jeder, der auf sich hielt in der Reichshauptstadt, pflegte in diesem Restaurant zu verkehren, das damals im Stadtteil Schöneberg lag. Otto Horcher, der Sohn des badischen Weinhändlers und Gründers Gustav Horcher, wusste, wie man Gäste hofiert.

Die Liste prominenter Besucher ist lang, sogar der russische Revolutionsdichter Wladimir Majakowski tafelte nach seinen Treffen mit der KPD-Führung heimlich beim Klassenfeind Horcher. Gut zehn Jahre später zählte der genussgierige "Reichsmarschall" Hermann Göring zu den Stammgästen. Doch mit nationalsozialistischem Führungspersonal ließ sich bald nicht mehr prahlen. Schon 1943, mitten im Krieg, übersiedelte das Restaurant unter abenteuerlichen Umständen nach Madrid, um in Francos Reich an alte Meriten anzuknüpfen. Bis heute lebt das Lokal dort gut im Windschatten der Geschichte. Zweifelhafte Teile der Vergangenheit werden ausgeblendet, am alten Glanz hält man fest, sogar Ex-König Juan Carlos war zu Gast.

Bei Horcher ist retro Programm, in jeder Hinsicht. Das Restaurant, nur einen Steinwurf vom berühmten Prado entfernt, strahlt zeitlose Gediegenheit aus. Das geht los bei Einrichtung und Gedecken und dem fast vergessenen "Kochen am Gast" mit seinen Flambier- und Tranchierkünsten. Und es endet auf dem Teller sowie bei der beeindruckenden Liste sehr alter (durchaus erschwinglicher) spanischer Rotweine. Im wohltemperierten Gastraum erwartet den Eintretenden weder Hipster-Personal noch Casual-Fine-Dining-Geraune, sondern eine Armada dienstbeflissener, diskreter Kellner, angeführt von Maître d'Hotel Blas Benito Aguilera im Stresemann. Auf rauchgrünem Teppichboden steht schweres Eichenmobiliar, vor dunkelroten Stofftapeten hängen goldgerahmte Stiche von adligen deutschen Offizieren, erläutert von deutschen Bildtexten. Für Chauvinismus-Debatten interessiert sich hier niemand: Damen wird der Bequemlichkeit halber ein Stoffkissen unter die Füße geschoben. Otto Horcher soll einst Wutanfälle bekommen haben, wenn seine Leute "diese Dienstleistung am schönen Geschlecht" vergessen hatten.

Das Publikum hier wirkt an einem Mittwochabend ebenso gediegen (und bejahrt) wie das Interieur. Zu später Stunde schneit noch Stararchitekt Sir Norman Foster herein, die Madrilenen verdanken ihm den Wolkenkratzer "Torre Foster". Doch trotz aller gesellschaftlichen Ambitionen ist das Horcher kein Ort, an dem man leicht ins Gespräch käme. An den Tischen bleibt man unter sich. Und alle Versuche, den Maître d'Hotel auf die bewegte Vergangenheit des Lokals anzusprechen, scheitern. Wiederholt hatte man zuvor die heutige Chefin des Gastronomen-Clans, Elisabeth Horcher, zum Interview angefragt. Vergeblich. Sie sagte zu, dann wieder ab; einmal weilte sie angeblich im Urlaub, einmal waren die Kinder krank, erneute Terminabsprachen verzögerten sich, versandeten schließlich.

Auf der Homepage des Lokals findet sich keinerlei Hinweis auf die dunklen Seiten der Unternehmensgeschichte. Dort wird nur auf Gustav Horcher verwiesen, der 1904 in Berlin das gleichnamige Restaurant gegründet habe. Sein Sohn Otto habe das "Familiengeschäft" auf Spanien "ausgeweitet" und 1943 ein Restaurant in Madrid eröffnet. Jetzt sei mit Elisabeth schon die vierte Generation am Ruder und bereit, die "Ideale und Qualitäten" von einst zu pflegen.

Die 30er-Jahre waren zweifellos goldene Jahre für die Berliner Gastronomen-Dynastie. Ob Otto Horcher überzeugter Nazi war oder nicht, ist heute kaum noch zu klären. Klar ist: Er profitierte vom Expansionskurs des Regimes. Schon zur Pariser Weltausstellung 1937 betrieb Horcher auf dem Dachgarten des von Albert Speer entworfenen deutschen Ausstellungspavillons ein Restaurant, das binnen Kürze zu einer der "beliebtesten und bestgeführten" Adressen in Paris wurde, wie Horchers einstiger Mitarbeiter Heinz M. Zellermayer für seine Autobiografie notierte.

In Berlin war Horcher der NS-Hautevolee stets zu Diensten, vor allem Hermann Göring, für den der Gastronom opulente Bankette organisierte, unter anderem in dessen Protzrefugium "Carinhall" in der Schorfheide. "Otto Horcher, Caterer to the Third Reich", lautet der Titel einer etwas reißerischen Abhandlung des britischen Historikers Giles MacDonogh. Im besetzten Europa übernahm Horcher unter anderem das Pariser Nobelrestaurant "Maxim's", Donogh zufolge war es eine freundliche, keine feindliche Übernahme. Später reichte Horchers Imperium bis nach Oslo, Riga und Tallinn, wo er sogenannte Luftwaffenclubs für Görings Flieger eröffnete, die auch öffentlich zugänglich waren. MacDonogh zufolge soll Göring bei Horcher den Erfolg der "Nacht der langen Messer" gefeiert haben - die Ermordung der gesamten SA-Spitze und weiterer Oppositioneller im Jahr 1934. Auch der Verschwörerkreis um Admiral Wilhelm Canaris soll sich in dem Lokal zu konspirativen Treffen versammelt haben.

Als "Reichpropagandaminister" Joseph Goebbels im Jahre 1943 den "totalen Krieg" verkündete und alle Vergnügungsstätten im Reich schloss, zeigte sich Göring offenbar für die Dienste Horchers erkenntlich und organisierte einen Sonderzug, um das Restaurant samt Personal nach Madrid zu verfrachten. Damit begann die zumindest anfangs eng mit dem Franco-Regime verknüpfte spanische Geschichte des Horcher-Clans. Es gibt viele Berichte, nach denen in der Calle Alfonso XII. diverse Altnazis verkehrten. Weil Franco nicht nach Deutschland auslieferte, hatten sie in Madrid wenig zu befürchten. In spanischen Veröffentlichungen taucht das Restaurant dann wiederholt als einschlägiger Faschistentreff auf, etwa in dem Buch "Nazis in Madrid" des US-Journalisten Peter Besas sowie in einer Übersicht über "Nazi-Orte" der Redaktion der Tageszeitung El País.

Heute relativiert Elisabeth Horcher die alten Zeiten. "Meine Großeltern waren keine Anhänger des Franco-Regimes", wird sie in einem Beitrag der erzkonservativen Tageszeitung ABC von 2014 zitiert. Der Diktator sei auch nie Gast gewesen. Doch es sei eine Tatsache, dass manche Gäste kämen, weil sie den morbiden Charme eines angeblichen Nazi-Restaurants suchten. "In Wirklichkeit war es ein Lokal wie andere in seiner Zeit." Elisabeth Horcher wirkt bei Auftritten elegant, modern, plaudert im Newsletter der Edelschuhmarke Tod's über Unverfängliches wie Popmusik oder ihr bevorzugtes Tapas-Restaurant. Bei Horcher lässt sie nun auch Hamburger servieren.

Allgemein sind Speisen hier vor allem: üppig. An diesem Abend gibt es pochiertes Ei auf reichlich matschigem Kartoffelpuffer mit einer Scheibe Räucherlachs und Sauce Hollandaise (32 Euro) und Hirschragout Stroganoff (38 Euro) mit Gewürzgurken. Und zum Abschluss einen Berg feiner, elastischer Baumkuchenstreifen mit Vanilleeis, Schokosoße und viel Sahne.

Ähnlich museal wie die Gerichte ist das sehenswerte Schauspiel von Horchers Serviceprofis. Vor den Augen der Gäste zerlegen sie mit gelassener Grandezza Geflügel oder bereiten "live" ein Steak Tartare so zu, wie man es heute kaum noch sieht. Und wo, in aller Welt, gibt es noch Geflügelpressen für die bei Tierschützern verpönte "Ente à la Presse", wo noch fast vergessene Dessertklassiker wie Crêpes "Sir Holden" - dünne Pfannkuchen über Vanilleeis mit Erdbeeren und einer alkoholisierten und flambierten Buttersauce? So ziemlich alles im Horcher liegt ein wenig schwer im Magen. Besonders für Historiker und Kulturforscher hat das aber seinen Reiz.

© SZ vom 02.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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