Essen und Trinken:Kunst auf Rezept

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Im britischen Gastro-Magazin "The Gourmand" darf Essen endlich Hochkultur sein. Mit diesem Ansatz ist die Zeitschrift sehr viel erfolgreicher als herkömmliche Feinschmecker-Postillen.

Von Alexander Menden

Wenn es ums Essen geht, ist die Kingsland High Street im Osten Londons für einiges bekannt - für den "Little Lagos" genannten Ridley Road Market mit seinen Ständen gestapelter Schweinefüße und Kuttel-Haufen etwa, oder für ihre dicht an dicht gestaffelten Döner-Läden. Nein, dieser Teil Hackneys hat sicher keinen Ruf als Zentrum der Spitzengastronomie zu verteidigen. Dennoch wird hier das derzeit vielleicht interessanteste Gastro-Magazin der Welt produziert.

Seine Herausgeber David Lane und Marina Tweed haben in einem Hinterhof ein minimalistisches Büro bezogen, das erfrischend wenig Hipstertum ausstrahlt. Entlang der Wand stehen in einem Regal die Früchte von fünf Jahren Arbeit aufgereiht: Bis dato sind zehn Nummern von The Gourmand erschienen, das sich im Untertitel als "Food and Culture Journal" bezeichnet.

Verkabelter Räucheraal - einige Kochseiten hier erinnern an Frankensteins Experimente

Fragt man den Creative Director David Lane, ob es eine Text gebe, der die Quintessenz seines Magazins einfange, schlägt er eine Geschichte über den Konzeptkünstler Gordon Matta-Clark und sein New Yorker Restaurant "Food" auf. Matta-Clark wollte Anfang der Siebzigerjahre den Künstlern im heruntergekommenen Soho einen Treffpunkt bieten. Food war aber weit mehr: Es hatte eine offene Küche; der japanische Assistent eines Gastes servierte hier das erste New Yorker Sushi und Street-Food-Verkäufer aus der Gegend boten hier ihr Essen an. Der Artikel beschreibt die Bewegung der Gäste, Kellner, Köche und Händler im offenen Raum als "fast choreografisch" - Food war Restaurant und Kunstprojekt zugleich "Die Geschichte erzählt viel darüber, wo die derzeitigen Trends in den hipsten Restaurants herkommen", sagt Lane. "Es hat alles schon mal irgendwie gegeben. Bei einer Food-Aktion wurden Knochen, die beim Kochen abfielen, zu kleinen Kunstwerken geschnitzt und Gästen mitgegeben. Im Vergleich dazu wirkt das Übergießen von Speisen mit flüssigem Sauerstoff recht lahm."

Lahm (oder zahm) wirken auch viele Gastro-Magazine, wenn man sie mit The Gourmand vergleicht. Rezepte, Porträts von Köchen, Restaurantkritiken - das alles findet man auch in dem halbjährlich erscheinenden Magazin. Doch gehen Lane und seine Geschäfts- und Lebenspartnerin Marina Tweed an solche Formate völlig anders heran als der Mainstream. Entstanden ist eine Diskurszeitschrift; eine Art Meta-Version handelsüblicher Feinschmeckerpostillen. Schon der Titel, der ja "Schlemmer" oder "Vielfraß" bedeuten kann, verweist auf eine ironische Distanz zum Gegenstand.

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(Foto: The Gourmand)

Zwei Cover des Magazins.

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(Foto: The Gourmand)

Das beginnt mit den Bildern. Welche andere Zeitschrift würde Räucheraal-Salat so herrichten, dass er - die Zutaten Aal, Speck und Chicorée sind durch Kabel und Klemmen verbunden - wie ein Frankenstein-Experiment wirkt? Wer ließe Schnecken über Gabelspitzen und Messerschneiden kriechen (für die Tiere ungefährlich)? Wo sonst fände man eine Serie mit aus wirklichem Essen nachgebauten Smartphone-Emojis?

"Die Food-Presse ist eine sehr geschlossene Welt", sagt Marina Tweed. "Es sind immer dieselben Fotografen - sie machen das sehr gut, aber es ist eben immer dasselbe. Wir haben von Anfang an Mode- und Design-Fotografen beauftragt, Essen in ihrem eigenen Stil abzubilden. Und der unterscheidet sich sehr von dem, was man gewohnt ist." "Köche sind so etwas wie die neuen DJs" ergänzt Lane. "Verschwitzt, tätowiert, in der offenen Küche, vier Pfannen auf einmal. Wir zeigen einen Teller mit Essen nur dann, wenn es um einen Koch geht, der wirklich aufregend und bahnbrechend ist, wie in unserem jüngsten Heft der Mexikaner Enrique Olvera. Mit ihm sprechen wir dann aber auch darüber, wie sich das jüngste Erdbeben in Mexiko City auf sein Leben und seine Arbeit ausgewirkt hat."

Inspiriert wurde The Gourmand 2012 von Dinners des Paars mit ihren Freunden, von denen viele in der Gastronomie arbeiten. "Wenn wir uns über Essen unterhalten, dann geht es nie um 'sechs frische Salatideen für den Herbst' oder so", sagt Lane. "Man spricht von Reisen, Kultur und seltsamen Sachen, die man irgendwo probiert hat." Lane arbeitete als Buchdesigner, Marina Tweed bei einer Branding-Agentur; alltags sahen sie sich nur spät abends. Dass sie seit 2012 an einem gemeinsamen Projekt arbeiten erweist sich nun, da sie einen zweijährigen Sohn haben, auch logistisch als Segen. Zugleich schloss das Journal in der Tradition des so legendären wie exzentrischen Weinmagazins The Compleat Imbiber eine Marktlücke. Es sollte ein kreatives, zeitloses Gastro-Magazin werden und nicht zu sehr an Werbung und Produkten orientiert.

Bis heute hat The Gourmand relativ wenige, aber hochkalibrige Anzeigenkunden, so sind Produktionskosten und Honorare gedeckt. Die erste Ausgabe hatte eine Auflage von 2000 Heften, heute sind es 20 000. Am Anfang klapperte Marina Tweed mit einem Packen Magazine Museums-Shops und Buchläden in London ab und verschickte die übrigen persönlich per Post. Mittlerweile ist The Gourmand in mehr als 300 Läden weltweit erhältlich, von Litauen bis Japan. Die eklektische Themenwahl spiegelt die Interessen der Herausgeber ("nie würden wir für irgendeine Marketing-Zielgruppe produzieren!"). Das kann ein Porträt der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama sein, in deren Oeuvre Kürbisse ein wichtige Rolle spielen, ein Fotoessay über philippinische Lohnsklaven in der Gastro-Industrie von Dubai, oder ein Stück über den Präsidenten der britischen Synästheten-Vereinigung - er hört beim Genuss von Krustenbraten immer das Klackern einer Schreibmaschine.

"Wenn alle über Kunst sprächen wie über Essen, dann wäre der Kunstdiskurs interessanter."

Wenn man interessante Menschen interviewen wolle, sei es als kleine Publikation oft viel leichter, über das universelle Thema Essen an sie heranzukommen, erklärt David Lane. So kam etwa die Story über den bei Interviews sehr wählerischen amerikanischen Rapper Makonnen zustande: "Er ging mit unserem Autor auf den Markt, kaufte ein, kochte sein ,Erdnusshähnchen', für das das Rezept im Heft abgedruckt ist. Hätten wir gesagt: 'Lass uns erstmal über dein letztes Album sprechen', hätte er vielleicht geantwortet: 'Das mache ich dauernd, kein Interesse'. Ähnlich war es mit Shep Gordon, Alice Coopers und Joni Mitchells Manager, der nebenbei den Fernseharchetyp des "Celebrity Chef" miterfand und buddhistische Kochshows produzierte.

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(Foto: The Gourmand)

Das Food-Magazin The Gourmand ist bekannt für überraschende Bildstrecken: Zum Beispiel Schnecken, die über Gabelzinken kriechen (für die Tiere ungefährlich).

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(Foto: The Gourmand)

Gemüse wirkt sphärisch, wenn man es durchs Mikroskop betrachtet.

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(Foto: The Gourmand)

Die Aprikose kann als Beitrag zur Sexismus-Debatte verstanden werden.

Gerade weil man bei The Gourmand so viel Wert auf das Design legt, ist die Auseinandersetzung mit der Darstellung von Essen kritisch, zum Beispiel damit, dass es bei Restaurantgerichten immer mehr um Optik geht - oft zu Lasten des Geschmacks. Im jüngsten Heft etwa hat der schwedische Fotograf Gustav Almestål die sieben Todsünden visualisiert. Das Ergebnis sind triefende, fiebrige Detailaufnahmen von Früchten, Salatblättern und Fischaugen, welche die Hochglanz-Ästhetik der Gastro-Fotografie mit einem Dekadenz-Virus injizieren.

"Wir setzen uns distanziert mit Gastro- Trends auseinander", sagt Lane. "Woher kommt etwa der Smear? Wenn man Essen dünn auf Tellern verschmiert, schmeckt es doch nicht besser, und meist sieht es auch albern aus." Er finde es auch "nervig", dass so viele Menschen im Lokal ihr Essen fotografierten und auf Instagram stellten: "Ich rufe ja auch keinen aus dem Kino an, um zu erzählen, wie toll der Film gerade ist."

Erstaunlicherweise wirkt The Gourmand trotz aller Verspieltheit bei der Lektüre selten abgehoben. Lane zieht den Vergleich zum oft prätentiösen Diskurs in der Kunstwelt: "Bei manchen Ausstellungen denken manche, dass sie nicht genug Ahnung haben, um zuzugeben, dass ein paar Sachen ihnen einfach nicht gefallen." Beim Essen könne man einfach sagen: Das schmeckt mir, oder das schmeckt mir nicht. "Wenn alle über so Kunst sprechen würden, wie über Essen, fände ich den Kunstdiskurs auf jeden Fall interessanter."

© SZ vom 05.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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