Ausstellung zu Jean Paul Gaultier:Im Streifendienst

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Blaues Wunder: Jean Paul Gaultier mit Matrosenmuster auf dem Leib. (Foto: Jean-Paul Goude)

Seine Corsagen kennt die ganze Welt, seine "Pop couture" machte die Pariser Textilkunst für die Masse zugänglich: Eine Ausstellung in München zelebriert die Kunst des Designers Jean Paul Gaultier.

Von Anne Goebel

L'enfant, c'est fini", sagt der Mann mit der raspelkurzen Frisur, das mit dem Kindsein ist vorbei. Jean Paul Gaultier ist zur Eröffnung seiner Ausstellung in München, der Designer sitzt zur Pressekonferenz in einem angemessen pompösen Samtsessel - und natürlich wird es nie vorbei sein mit dem Attribut, das ihm die Modewelt angehängt hat: Enfant terrible, der Aufrührer der Branche. Da kann sich Gaultier noch so oft am Haar zupfen und kokett erklären, dass aus schrillem Platinweiß längst echtes Grau wurde. Er ist, auch nach 40 Jahren im Geschäft, auf die Rolle des ungezogenen Jungen festgelegt.

Die Mode liebt solche handlichen Begriffe. Aber wer wissen will, welche Welten sich hinter dem Etikett auftun, muss "From the Sidewalk to the Catwalk" in der Kunsthalle sehen: eine Revue höchster französischer Schneiderkunst, voller Detailversessenheit und erotischer Anspielung. Seit Jahren tourt die Schau, die zum ersten Mal in Deutschland Station macht, um die Welt, bald wird der zweimillionste Besucher erwartet. Über unsere Sehnsucht nach Mode als Illusion sagt das einiges.

Der größte lebende französische Designer - ein Autodidakt

Jean Paul Gaultier, Autodidakt aus einem Pariser Vorort, gehört zur Riege der berühmtesten Modeschöpfer der Gegenwart. Als "größtem lebenden französischen Designer" huldigte ihm vor einiger Zeit die ehrwürdige NZZ, und solche Elogen haben nicht nur mit den spitzen Brüsten von Madonna zu tun. Der "Cone Bra", ein Mieder mit zackenförmigen Aufsätzen, ist wahrscheinlich der bekannteste Entwurf von JPG und hat einen Ehrenplatz in der Ausstellung. 1990 katapultierte dieser goldglänzende Lingerieskandal, von Madonna während ihrer "Blond Ambition"-Tour getragen und als Bild millionenfach um die Welt gegangen, Gaultier nach ganz oben.

Tout le monde kannte von nun an den Typen mit dem Bürstenschnitt als Experten für körpernahen Sexappeal, auch Kylie Minogue oder Beyoncé ließen sich später Bühnenkostüme maßschneidern: Weltraum-Corsagen, hautenge Schlaghosen aus klimpernden Metallplättchen. Wobei man sich in der Ausstellung fragt, wer hier eigentlich wen in Szene setzt: Lassen die Stars vom Hofausstatter ihre Vorzüge herausarbeiten oder benutzt Gaultier ihre Körper, um seine Ideen zum Leben zu erwecken?

"Pop couture" - Pariser Textilkunst für die Masse

Dass ein Modeschöpfer mit "Pop couture" den heiligen Schrein Pariser Textilkunst für den Massengeschmack öffnete, verursachte in den Achtziger- und Neunzigerjahren noch Aufregung. Jean Paul Gaultier, der dem Großmeister Pierre Cardin als begabter junger Zeichner aufgefallen war und sich in dessen Haus das Rüstzeug zum Designer aneignen durfte, hat schon in seinen ersten eigenen Kollektionen auf Straßenkontakt gesetzt.

Der mittlerweile reichlich ausgeleierte Begriff von der Demokratisierung der Mode war noch nicht erfunden, da kombinierte einer perfekten Schnitt, Gespür für kostbare Stoffe mit Versatzstücken des Punk, verpasste Dekolletés aus rohem Bikerleder einen Organza-Rock und Militärhosen für langbeinige Mädchen ein Netz aus Pailletten.

Im Ausstellungstitel "From the Sidewalk to the Catwalk" schwingt etwas von der Attitüde des Gossenjungen mit, und fast alle Exponate zeigen den typischen JPG-Twist, die kleine textile Impertinenz. So viel Subkultur erregte damals die Modewelt, und Gaultier kann noch heute mit geschürzten Lippen genüsslich davon erzählen, wie er mit tumultartigen Laufstegshows gegen die immer gleichen Codes angeblicher Eleganz anrannte. "Gold auf Beige, das galt als schick in Paris. Alles andere: unmöglich!"

Der Knalleffekt, das Anrüchige gehören zu Gaultier wie das Doppel-C zu Chanel, und sie waren wohl auch Teil des geschäftlichen Kalküls. 1978 hatte sich der 26-Jährige mit seinem damaligen Lebens- und Businesspartner selbständig gemacht und musste Geld mit seinen eigenen Kollektionen verdienen. Medienwirksame Aufreger wie der Hype um seine Röcke für Männer oder der Körbchen-Coup mit Madonna kamen nicht ungelegen.

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(Foto: Nicolas Ruel)

Couture für Männer - schulterfrei. Foto: Nicolas Ruel

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(Foto: Emil Larsson)

Teddy Nana mit Brüsten aus Zeitungspapier. Foto: Emil Larsson

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(Foto: Emil Larsson)

The Cone Bra: Madonnas berühmtes Tour-Outfit. Foto: Emil Larsson

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(Foto: Paolo Roversi)

Ein Entwurf von 1991 aus der Kollektion "French Cancan". Foto: Paolo Roversi

Bis heute, da Gaultiers große Zeit vorbei ist und seine Pariser Schauen von der Kritik mit wohlgesetzter Höflichkeit bedacht werden, garantieren ihm prominente Kundinnen Aufmerksamkeit - Marion Cotillard zum Beispiel, die sich ihrem Oscar in einer weißschuppigen Nixenrobe entgegenschlängelte.

Und doch ist die schnelle Gaultier-Sensation ein Missverständnis, das wird in der Münchner Schau gerade anhand des Cone Bra deutlich. Das aggressiv sexualisierte Mieder für Madonna Louise Ciccone - Gaultier nennt sie "mein Lieblingsmacho" - ist auch ein hochartifizielles Kunstwerk aus Satinbändern, die in Kleinarbeit gezurrt, gewickelt, vernäht sind. Es sieht aus der Nähe unerwartet fragil aus.

Ein ganzer Ausstellungsraum ("Der Salon") beschäftigt sich mit Gaultiers Begeisterung für das Korsett, angeblich ein Vermächtnis seiner Großmutter, die vor dem Schnür-Ritual ihren Bauch durch die Einnahme von Essig flach bekommen habe. Neben der Faszination für die anstößige Erotik der Corsage - Gaultier entwarf auch Gitter- und Käfigmodelle - hat ihn die Form zu kunsthandwerklichen Höchstleistungen getrieben: Ein Entwurf aus der Mexiko-Kollektion besteht aus fein gefältelter Seide mit Inkamuster, echte Muscheln wölben sich aus dem "Les Sirènes"-Bustier.

Feministische Empörung über seine Korsetts hat Gaultier nie verstanden. Er sieht das Wäschestück als Symbol einer selbstbewussten Frau, die ihre sexuelle Macht einsetzt. "Toy boys" taufte er, sehr bezeichnend, eine Männerkollektion. Und seinem Teddy klebte er schon als Bub eine weibliche Brust aus zerknüllter Zeitung auf, man kann ihn im Salon wie ein Heiligtum bestaunen.

Das Unperfekte als Markenzeichen

Der große Spaßmacher und (zuweilen dunkle) Verführer der Mode, so sieht sich Gaultier am liebsten und lässt sich gerne bewundern als geniales Mode-Irrlicht zwischen Glanz und Schatten. Dass in seiner Menagerie Platz für die Unperfekten ist, die Kleinen, Dicken, Alten, ist ein Markenzeichen. Transgender-Models, Mannequins mit Schönheitsfehlern, damit hat der Designer früh Schlagzeilen gemacht. Ihn habe, sagt er, das "Savoir faire" der Profimodels gestört. "Ich wollte Menschen mit Persönlichkeit, die ihre eigene Art haben, sich zu bewegen."

Allerdings sind die Puppen im Ausstellungsraum "Die Odyssee" alle gut gebaut und haben hübsche Gesichter - die sich, dank einer raffinierten technischen Projektion, zu bewegen scheinen, lächelnd oder augenzwinkernd. Das lenkt fast ab von den ikonischen Blau-Weiß-Entwürfen, mit denen Gaultier das urfranzösische Blockmuster immer wieder variiert. Matrosenpullover aus Nerz, Abendkleider aus gestreiften Federvolants - diese Sachen hat kein anderer Designer mit den klassischen Marin-Ringeln angestellt. Frankreich liegt ihm auch für solche Streiche zu Füßen. Dass er seine Prêt-à-porter-Linie 2014 einstellte und nur noch Haute Couture fertigt, war bald verziehen.

Ganz Weltbürger ist Gaultier in der grandiosen Abteilung "Großstadtdschungel" mit bewegten Schaufensterpuppen. Die folkloristisch inspirierten Kreationen aus Fuchspelz oder Palmstroh, bestickt, von Perlen oder Swarovski-Kristallen gesäumt, mit Einflüssen aus Island oder der Südsee, sind von einer Fülle an Farben, Formen, Ideen, die kurz fast die Luft nimmt. "Wer soll so etwas anziehen?", zischelt eine Besucherin. Schon wahr. Aber dann wartet am Ausgang noch eine kämpferische Braut in Weiß, mit Ketten und großem Häuptlingsgefieder. Und man möchte den Rundgang sofort von vorn beginnen.

© SZ vom 19.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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