Wales:Das war's noch nicht

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Der Erste unter vielen Walisern verabschiedet sich: Gareth Bale war gegen Portugal ganz schön auf sich allein gestellt. (Foto: Srdjan Suki/dpa)

Die Waliser haben all ihre Erwartungen übertroffen - aber wie wird verhindert, dass der Erfolg ein Märchen für vier Wochen bleibt? Die Qualifikation für die WM in Russland wäre die erste seit 60 Jahren.

Von Claudio Catuogno, Lyon

Natürlich wurde auch der Trainer Chris Coleman von allen Seiten geherzt und beglückwünscht, jeder nahm ihn mal in den Arm, und noch lange nach dem Abpfiff standen die Waliser Fans auf der Tribüne, sangen und applaudierten ihren Helden. Die 0:2-Niederlage gegen Portugal war da schon nicht mehr so wichtig, sie trat zurück hinter die Erkenntnis, "dass diese Mission für uns völlig anders verlaufen ist als erwartet", wie Coleman später sagte. "Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie stolz ich auf dieses Team bin."

Wenn es am Ende eines EM-Halbfinales so aussieht, als ob es keinen Verlierer gäbe, wenn keine Tränen fließen, keine Fans pfeifen und kein Trainer den Rücktritt einreicht - dann muss mal wieder ein Team das Turnier verlassen, das all seine Erwartungen sowieso längst übertroffen hat. So wie die Waliser am Mittwoch in Lyon.

An diesem Freitag wird die walisische Nationalelf in Cardiff empfangen; erst soll sie im offenen Bus durch die Stadt gefahren und dann im Stadion von 33 000 Fans bejubelt werden. Zu feiern ist der größte Erfolg des Fußballs überhaupt für einen Landstrich im Westen des Vereinigten Königreichs, der nur gut drei Millionen Einwohner hat, Schafe nicht mitgerechnet. Die historischen Kennziffern sind inzwischen bekannt: Seit der WM 1958 hatten alle 28 WM- und EM-Turniere ohne Wales stattgefunden. Und nun schrieb tatsächlich der britische Premier David Cameron in einer Grußbotschaft: "Ihr habt eine ganze Nation inspiriert und Großbritannien stolz gemacht" - das geht einem Waliser, der im Stadion über Jahrzehnte die Engländer verhöhnen musste, weil das eigene Schicksal schon zu trist war für Spott, natürlich runter wie lauwarmes Dosenbier.

"Wir haben nie unseren Rhythmus gefunden, die Portugiesen haben den Raum gekillt."

Vier Partien hatte die Elf in Frankreich gewonnen; nur im Gruppenspiel gegen England "haben wir nicht gezeigt, wer wir sind", sagt Coleman. Das verloren die Waliser noch in der letzten Minute. England war dann trotzdem bald zu Hause, die Waliser logierten weiter in ihrem Quartier in der Bretagne. Und der Trainer Coleman versuchte, das alles als ziemlich normales Unterfangen darzustellen: "Der einzige Unterschied ist, dass wir diesmal nur zwei statt neun Wochen Sommerferien haben." Aber was ist schon normal: Der Mittelfeldspieler Joe Ledley musste seine Hochzeit verschieben, Abwehrspieler Chris Gunter verpasste die Heirat seines Bruders in Mexiko, bei der er als Trauzeuge eingeplant war. Was ist schon der Bund fürs Leben, wenn man gerade an einer Geschichte für die Ewigkeit mitschreibt?

Nun, gegen Portugal, fehlte allerdings gelbgesperrt der Spielmacher Aaron Ramsey, und Gareth Bale, der Stürmer von Real Madrid, rackerte zwar bis in die zweite Halbzeit gegen das Ausscheiden an, eroberte Bälle, verteilte sie, startete seine Tempoläufe. Aber das half diesmal auch nicht. "Portugal hat gut verteidigt, die haben den Raum gekillt", sagte Coleman hinterher, "wir haben nie unseren Rhythmus, unser Momentum gefunden." Und so ganz ohne Rhythmus und Momentum bleibt einer Underdog-Mannschaft dann einfach zu wenig, worauf sie aufbauen kann.

Nur nach vorne schauen - das war Chris Colemans Credo gewesen bei diesem Turnier: "Keine Angst vor dem Licht." All die Pleiten ignorieren aus jenen dunklen Jahrzehnten, in denen Wales jenseits der Position 150 in der Fifa-Weltrangliste herumdümpelte. Nach vorne schauen, das gilt jetzt auch weiterhin. Mit als erstes hat Chris Coleman seinen Spielern nach dem Abpfiff gesagt: "Das ist für uns das Ende dieses Turniers, aber es ist nicht das Ende dieser Gruppe!" Die Geschichte soll ja nicht als Märchen für vier Wochen enden. Wie sie jetzt die nötige Nachhaltigkeit in ihr Projekt kriegen, das ist die Frage, die sich all die kleinen Überraschungsmannschaften dieser EM gerade stellen, Isländer, Nordiren, Waliser und andere.

Auf Gareth Bale kann Chris Coleman dabei in jedem Fall zählen. "Das war noch lange nicht alles. Der Kampf geht weiter", sagte Bale in Lyon weit nach Mitternacht, "unser Hunger ist größer als je zuvor. Es tut weh, zu verlieren, die Wunde ist noch frisch. Aber wir wollen uns jetzt jedes Mal für ein großes Turnier qualifizieren."

In weniger als zwei Monaten beginnt die Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2018 in Russland. Es wäre die erste Teilnahme für Wales seit dann 60 Jahren. Österreich, Serbien, Irland, Moldau und Georgien heißen die Gegner. Das EM-Halbfinale hat da gewisse Erwartungen in der Heimat geschürt. "Früher wären wir in diese Spiele mit Beklemmung gegangen", schrieb die South Wales Evening Post, aber "das ist vorbei. Wales ist der Favorit in dieser Gruppe."

Das muss sich zwar erst noch zeigen. Aber "unser Selbstvertrauen ist gewachsen, wir haben an Statur gewonnen, wir werden jetzt mehr respektiert", sagt Gareth Bale.

Und wenn nach der Europameisterschaft die neue Fifa-Weltrangliste rauskommt, wird Wales dort vor England stehen. Das ist auch nicht schlecht fürs Selbstwertgefühl.

© SZ vom 08.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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