Vize-Weltmeister Rico Freimuth:Wenn der Akku im Kopf nicht mehr auflädt

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Rico Freimuth: 2017 noch mit Silber in London, nun erstmal mit einer Auszeit (Foto: Martin Meissner/AP)
  • Vize-Weltmeister Rico Freimuth beendet seine Saison, weil ihm der Spaß am Sport verloren gegangen ist.
  • Mehrkämpfer schuften monatelang im Schatten der großen Bühnen. Und wenn sie dann an zwei Tagen sieben oder zehn Disziplinen aneinanderknüpfen, leben sie immer im Wissen, dass eine falsche Bewegung alles zerstören kann. "Das kostet viel Nervenenergie", sagt Rainer Pottel, der Bundestrainer.
  • Seit 2011 war Freimuth bei allen Großereignissen seines Sports dabei, nun würde er gerne reisen.

Von Johannes Knuth, München

Am Abend, bevor er sich auf unbestimmte Zeit von seinem Sport verabschiedete, nahm der Zehnkämpfer Rico Freimuth das Ganze noch mit Humor: "Das war peinlich. Hoffentlich hat das meine Mutter nicht gesehen", sagte Freimuth beim Meeting in Götzis, wo er am ersten Tag einen für ihn mäßig erwärmenden 400-Meter-Lauf aufgeführt hatte. Der zweite Tag begann besser, Freimuth schob sich beim Diskuswurf auf Rang drei im Gesamtklassement. Eine passable Ausgangslage im Kampf um einen der drei Startplätze, die den deutschen Zehnkämpfern bei der EM im August in Berlin zustehen. Und dann: Legte Freimuth plötzlich die Arbeit nieder, kurz vor der achten Prüfung, dem Stabhochsprung. "Mentale Müdigkeit" lautete die Eigendiagnose, während sich die Kollegen gerade einsprangen. "Meine Form ist gut. Aber wenn man den Spaß vorzeitig verliert ...", sagte Freimuth. Am Dienstag verkündete er dann jenes Verdikt, das sich abgezeichnet hatte: Dass der WM-Zweite auf die Heim-EM verzichten wird.

Gesundheitsmanagement ist das große Thema des Mehrkampfs, und im Deutschen Leichtathletik-Verband sind sie schon oft daran verzweifelt, begabte Athleten für mehr als einen Sommer auf Beständigkeit zu trimmen. Mehrkämpfer schuften monatelang im Schatten der großen Bühnen, sie wissen nie, ob die Saat aufgeht, die sie so lange auslegen - weil die Belastung ihres Gewerbes so groß ist, dass sie sie dem Körper nur an zwei, drei Wochenenden im Jahr zumuten können. Und wenn sie dann an zwei Tagen sieben oder zehn Disziplinen aneinanderknüpfen, leben sie immer im Wissen, dass eine falsche Bewegung alles zerstören kann. "Das kostet viel Nervenenergie", sagt Rainer Pottel, der Bundestrainer. Man sehe diesen Zoll kaum, weil keine Bänder reißen oder Knochen brechen. Aber er sei manchmal größer als der körperliche Stress.

Wenn Pottel ein paar Tage nach Freimuths spontanem Sabbatical redet, liegt viel Verständnis in seiner Stimme. "Rico war seit 2011 bei jedem Großereignis dabei", sagt er; Europas Leichtathleten kennen kein Jahr ohne große Leistungsmesse. "Das ist schon eine lange Zeit", findet Pottel. Freimuths Ausstieg sei für ihn also "nachvollziehbar". Wenn einen Athleten die Motivation verlasse, sei es egal, ob er mit der Referenz einer WM-Silbermedaille anreise, die Freimuth im vergangenen Herbst erstanden hatte: "Rico ist jetzt 30, und für so eine extreme Leistung wie den Zehnkampf brauchst du jemanden, der voll motiviert ist." Letztlich sei das wie in der Berufswelt, wenn ein Arbeitnehmer über Jahre von einer Erschöpfung in die nächste falle. Dann verhält sich der Kopf wie ein Akku, der sich irgendwann nicht mehr auflädt.

Wenn die finanziellen Privilegien wegfallen, ist der Druck noch größer

Druck im Sport ist ein sensibles Thema, das Bewusstsein ist gestiegen, aber mentale Schwäche wird häufig weiter stigmatisiert. Neulich im Fall von Per Mertesacker etwa. Der hatte im Spiegel den Druck im Fußball und seine Versagensängste thematisiert. Weggefährten spendeten Verständnis, manche gossen Häme aus. Jenseits des Fußballs, wenn bei vielen Sportlern die finanziellen Privilegien wegfallen, ist die Lage noch komplizierter. In einer Umfrage der Sporthilfe vor fünf Jahren gaben ein Drittel von 1150 Athleten an, dass sie schon mal unter psychischen Malaisen litten, wegen Erfolgsdruck oder Existenzangst. Im DLV haben sie vor sieben Jahren reagiert, Kaderathleten können sich ständig an Psychologen wenden. Aber auch das nutze jeder "völlig individuell", hat Bundestrainer Pottel beobachtet. Und manchmal hilft keine Stütze mehr, dann ist der Akku eben leer.

Freimuth ist mit viel Talent gesegnet, er ist einer, der sich am Duell im Wettkampf berauschen kann. Aber wenn es mal nicht lief, dann sackte früher der Kopf nach unten, dann rutschte er ins andere Extrem. Vor der EM 2014 "habe ich nicht richtig gut gelebt", hat er vor zwei Jahren im Gespräch erzählt, "ich wollte nicht mehr richtig Zehnkampf machen." Bei der EM lag er kurz auf Medaillenkurs, "aber mir war das irgendwie egal, als hätte ich das Laufen verlernt." Später kehrte Michael Schrader in die Trainingsgruppe und gemeinsame Wohnung in Halle zurück, das half Freimuth, auch weil Schrader ganz anders tickt: ehrgeizig, trainingswütig, einer, der Freimuth mitriss und stützte. "Vielleicht", sagt Pottel, "wäre das bei Rico früher gekommen, wenn Micha nicht bei ihm gewesen wäre." Und jetzt? Er habe Freimuth gesagt: "Er soll es einfach auf sich zukommen lassen." Am Dienstag erklärte Freimuth, dass er auch deshalb auf die EM verzichte, um für Olympia 2020 motiviert zu sein. Jetzt wolle er erst mal reisen, nach Australien oder in die USA.

© SZ vom 30.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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