Ungarn:Für süße Genießer

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Szalai, Stieber, Kleinheisler: Drei Spieler, die in Deutschland zuletzt oft im Schatten standen, führen Ungarn zum Sieg.

Von Javier Cáceres, Bordeaux

Wer zählt die Generationen von Ungarn, die an Vergleichen mit den ganz Großen der Fußballgeschichte dieses Landes gescheitert sind? Einer Geschichte, die melancholisch gefärbt und von Bildern in Schwarz-Weiß geprägt ist. Die Eroberung des Londoner Wembley-Stadions durch Puskas, Czibor, Kocsis, Hidegkuti und Bozsic im Jahr 1953 gehört dazu; und auch das "Wunder von Bern", wenngleich es aus ungarischer Sicht ein Drama war. Der letzte ungarische Überlebende dieses gegen Deutschland verlorenen 54er-Finals, Jeno Buzanszky, verstarb 2015.

Zufall oder nicht: Am Dienstag in Bordeaux spielte Ungarn bei seinem ersten Turnier-Endrundenspiel seit 1982 und dem ersten EM-Auftritt seit der Halbfinalniederlage von 1972 gegen die Sowjetunion, wie befreit auf. Ausgerechnet Österreich, mit dem Ungarn einst imperial verbandelt war und bereits 136 fußballerische Länderspiel-Sträuße ausgefochten hatte, wurde 2:0 (0:0) besiegt, völlig verdient.

"Dies ist ein sehr süßer Moment für mich und auch für Ungarn", säuselte Mittelstürmer Adam Szalai auf Spanisch, er ist der Sprache seit seiner Zeit im Nachwuchs bei Real Madrid mächtig. Szalai hatte die Ungarn nach einer wunderbaren Kombination mit Laszlo Kleinheisler (Werder Bremen) in Führung gebracht; danach tauchte er wie Iggy Pop auf seinen Konzerten ins Publikum. Als ob er ein ganzes Land umarmen wollte, das so lange gedürstet hatte.

(Foto: a)

Die Trainer Storck und Möller klingen sehr euphorisch

"Das war ein Blackout, ich habe keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe", sagte Szalai später zu seinem Jubelausbruch. Auch sein Durst war unermesslich gewesen - seinen letzten Treffer hatte der Bundesliga-Profi im Dezember 2014 für Hoffenheim erzielt: "Es war eine sehr harte Zeit, auch in Hannover hat es nicht geklappt", sagte der mit 96 zuletzt krachend Abgestiegene, "ich habe von Anfang an zu mir gesagt: Du bist einer der ersten Ungarn seit 44 Jahren bei einer EM - genieß' es einfach! Und das mache ich jetzt."

Szalai stand wie der Schütze des 2:0, Zoltan Stieber, stellvertretend für ungarische Fußballer, die in Deutschland ein im Lichte der Leistung gegen Österreich unerklärliches Schattendasein fristen. Auch Kleinheisler sitzt bei Bremen vornehmlich auf der Bank, Stieber kam sogar beim Zweitligisten 1. FC Nürnberg eher selten zum Einsatz. Gegen Österreich spielten die Ungarn zwar lange nicht so betörend wie die "Goldene Elf" aus den Fünfzigern. Aber sie bestachen durchaus durch feine Füße. Sie ließen den Ball flach und gefällig durch die eigenen Reihen zirkulieren, wirkten technisch ansprechend und trieben geduldig und bestimmt die favorisierten Österreicher an den Abgrund.

"Man muss diesen Spielern Vertrauen geben", erklärte Andreas Möller, der 1996 mit Deutschland Europameister wurde und seit einiger Zeit als ungarischer Assistenztrainer arbeitet: "Die Jungs können sich bei der ungarischen Nationalmannschaft wohlfühlen. Sie bekommen die nötige Unterstützung und Hilfe." Sein ebenfalls deutscher Chef Bernd Storck war ähnlich euphorisch ("Die zweite Halbzeit war grandios") wie Stagediver Szalai nach dem Tor. Der Trainer hatte sich aber wieder unter Kontrolle, als er gefragt wurde, warum Kleinheisler bei Werder nicht zum Zuge komme: "Das weiß ich nicht."

Storck darf sich, völlig zu Recht, auf die Fahnen schreiben, derjenige gewesen zu sein, der das Auge für diesen besonderen Spieler gehabt hat: "Er hat ja in Ungarn kaum gespielt", sagte Storck, der Kleinheisler bei der U21 entdeckte und im November in der EM-Qualifikation in Oslo in der A-Elf debütieren ließ. Kleinheisler dankte es umgehend mit einem Tor in den EM-Playoffs: "Er ist ein Riesentalent. Er wird seinen Weg in der Bundesliga gehen, so oder so", sagte Storck, der bei Hertha BSC Co-Trainer von Jürgen Röber war.

In Berlin, spielte einst auch der Rekordmann des Tages, Gabor Kiraly, der mit nun mehr als 40 Jahren der älteste EM-Endrundenteilnehmer aller Zeiten ist, vor Lothar Matthäus, der bei der größten EM-Pleite Deutschland (Sommer 2000, 0:3 gegen das B-Team Portugals in Rotterdam) 39 Jahre alt war. Kiraly trug bereits bei Profi-Spielen seine Jogginghose, als mancher seiner heutigen Nationalmannschaftskollegen noch nicht geboren war.

Szalai gehört nicht dazu, er ist bereits 28 Jahre alt. Er freut sich besonders auf das nächste Duell mit Portugal; in den gegnerischen Reihen steht Cristiano Ronaldo, mit dem Szalai immerhin als Nachwuchsspieler von Real Madrid einst trainieren durfte. Der Kontakt zu Ronaldo ist offenbar nicht abgebrochen, neulich noch habe man miteinander gesprochen. Den Inhalt des Telefonats behielt Szalai für sich, nicht aber seine Bewunderung für den Portugiesen: "Es ist wundervoll, gegen ihn zu spielen. Für mich ist er der Beste." Zurzeit liegt Szalai aber im direkten EM-Vergleich mit einem Tor in Front.

© SZ vom 16.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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