Turnen:Finale ohne Kreuzband

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Drei Endkämpfe erreicht, Fabian Hambüchen glänzt am Reck - doch das große Drama liefert Andreas Toba. Er verletzt sich, tritt dann am Pauschenpferd an und sichert seinem Team heldenhaft die Qualifikation.

Von Volker Kreisl

Als Andreas Toba später mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf in der Mixed-Zone stand und seinen Kommentar zu dem abgab, was passiert war, da antwortete er recht sachlich. Vielleicht fiel ja deshalb spät eine sehr wichtige Frage: "Haben Sie jetzt eigentlich Schmerzen?" Und Toba sagte: "Die Schmerzen in meinem Knie sind auszuhalten, aber die in meiner Seele sind unbeschreiblich."

Manche Athleten starten bei Olympia, um zu siegen, weil alles andere eine Blamage wäre. Manche treten an, um einfach dabei zu sein. Manche hoffen, dass ihnen eine Überraschung gelingt. Im Turnen aber gibt es keine solchen Überraschungen, das maximale Können ist per Schwierigkeitswert aus dem Training zuvor definiert, und wer keine besseren Elemente an die Geräte bringt, der macht sich auch nichts vor. Die deutschen Turner von Bundestrainer Andreas Hirsch haben auch wegen vieler Verletzungen nicht mehr die Qualität früherer Jahre, sie treten in Rio an, um ein paar Einzel-Chancen zu nutzen und ansonsten Sportsgeist zu zeigen. Und Letzteres ist ihnen im Vorkampf mehr als gelungen.

Drei Endkämpfe haben sie erreicht, das Teamfinale, den Mehrkampf mit Andreas Bretschneider und Marcel Nguyen sowie das Reckfinale mit Fabian Hambüchen. Dabei sind sie aber am Samstag durch eine zweistündige Qualifikation gegangen, durch eine lange Geschichte, die jedenfalls ein deutsches Turn-Team in dieser Dynamik und Dramatik, mit so vielen traurigen, ärgerlichen und schließlich versöhnlichen Unterkapiteln noch nicht erlebt hat.

Bretschneider erkannte die Lage: "Zeit, um mich selber zu hassen, war nicht."

Es begann schon mit der Auslosung, wonach Hirschs Riege am Reck starten musste, und weil jedes Pünktchen der grob 263 angepeilten Zähler gebraucht wurde, musste an diesem deutschen Lieblingsgerät vorgelegt werden. Fünf Turner hatte Hirsch wie alle anderen anfangs im Rennen, vier von ihnen durften je nach Können an ein Gerät, drei Ergebnisse gingen in die Wertung ein. Im Nachhinein waren das am Reck also noch paradiesische Zustände, aber obwohl die See da noch ruhig war, erlebte die Mannschaft den ersten Schiffbruch. Nguyen, der zweifache Silbergewinner von London 2012, verpatzte einen Griff und schlenkerte mit Schlagseite um die Stange. Und Bretschneider aus Chemnitz, der mit seiner höchstschwierigen Eigenkreation namens "Bretschneider I" eigentlich das Publikum verzücken und ins Reckfinale einziehen wollte, vollführte tatsächlich einen Doppelsalto mit doppelter Drehung über die Stange, verschätzte sich dann aber beim Zurückgreifen, und zwar "um grob einen Zentimeter". Alles war vorbei, er lag in der Matte, aber es half ja nichts, wie er erklärte: "Zeit, um mich selber zu hassen, war nicht."

Es war vielleicht das Glück der Deutschen, dass es immer weiterging, dass nach Bretschneider wieder Hambüchen kam, der zweite Reckfinal-Kandidat, der mit noch einem Sturz die gesamte Moral dieses Teams vermutlich gleich mit in die Weichmatte gerissen hätte. Aber Hambüchen flog und griff und flog und griff. Ihm gelang auch der schwierige Adler, die Drehung in den Handstand auf der Stange, eine Heimsuchung von einem Element, weil auch hier so viel schiefgehen kann. Aber Hambüchen gelang alles. Am Ende dieses Tages gewann er am Reck mit einem Schwierigkeitswert von 7,3 Punkten und einer Note von 15,533 sogar die gesamte Qualifikation und ist nun Medaillenkandidat.

Aber Zeit, sich zu lieben, war ja auch nicht. "Wichtig war hier das Team", sagte Hambüchen, und die eigentliche Prüfung wartete am Boden, dem nächsten Gerät. Schon nach seiner ersten Akrobatikbahn verschätzte sich der Hannoveraner Toba. Irgendwas in der Luft war schlecht getimt oder irgendwas beim Absprung, jedenfalls landete er nach Überschlägen und Salti minimal zu früh, seine Füße donnerten in den Boden, als die letzte Schraube noch nicht zu Ende gedreht war. Toba blieb liegen.

Die Deutschen schauten versteinert, die Ärzte eilten herbei, Toba konnte sich zwar irgendwann erheben - und Nguyen, Bretschneider und Hambüchen, vielleicht aus einem spontanen Verdrängungsakt, zeigten ordentliche Bodenübungen. Sogar der Umstand, dass sich Hambüchen in seiner kürzlich erneuerten Übung peinlich vertan hatte und einen von vier Rückwärtssalti nicht anerkannt bekam, weil nur drei erlaubt sind, war nebensächlich. "Da haben wir Mist gebaut", bekannte er, aber in diesem Moment war das egal, die Frage war: Wie soll es weitergehen, ohne Toba, den zwar nicht spektakulären, aber sicheren Background an allen Geräten, eine Art Katsche Schwarzenbeck des Turnens?

Tatsächlich aber stellte sich dieser bange Moment als der Turnaround der geplagten Deutschen in diesem Wettkampf heraus. Toba hatte einen Verdacht auf Kreuzbandriss, der sich später erhärtete. Hirsch fragte Toba: "Sag ehrlich: Turnst du oder nicht? Wenn ja, dann musst du voll da sein." Und Toba sagte: "Ja."

Das nächste Gerät, das Pauschenpferd, belastet die Knie ja nur am Schluss, beim Abgang. Es ist Tobas bestes Gerät, und später sollte Hirsch klarstellen, dass genau diese acht Zehntel von Andreas Tobas Pferd-Wert den Ausschlag dafür gaben, dass man die Schweiz noch abhängen konnte und den achten und letzten Final-Platz ergatterte. Toba schwang sich hinauf, rotierte über die Griffe und den Rücken des Bocks, drehte sich sicher um die Flanken, dann streckte er die Beine kerzengerade zur Decke, und man merkte gar nichts von seiner Verletzung, nur vielleicht am Schluss, bei einem leichten Zucken seines Körpers, als er in der Matte landete und davonhumpelte.

Der traurige Toba überlegte tatsächlich, auch im Teamfinale anzutreten - daraus wird nichts

Beim Rest, das war klar, bei Ringen, Sprung und Barren, konnte er nicht mehr dabei sein, zu groß sind die Kräfte, die hier aufs Knie wirken. Aber sein Einsatz hat ja nicht nur acht Zehntel mehr eingebracht, er war gewissermaßen die Zündung fürs Team, das sein Schicksal in die Hand nahm. Diese zweite Chance wollte keiner mehr vergeben, an den Ringen überzeugten alle, am Sprungtisch überraschte vor allem Hambüchen, der alles riskierte, und seinen schwierigeren Sprung erstmals seit langer Zeit wieder stand. Bretschneider, der dieses Gerät nicht geplant hatte aber für Toba einspringen musste, verschwand für zwei, drei Probesprünge in die Einturnhalle und gab sich dann keine Blöße.

Am Ende stand die Frage im Raum, welche Bilanz nach so einem Tag zu ziehen ist. Und welcher Wert außer einer harten Medaille aus einem Wettkampf überhaupt noch zu holen ist. Lukas Dauser und Nguyen hatten ja noch einen Nackenschlag einstecken müssen, weil sie das erhoffte Barrenfinale verpassten. Medaillen werden sie keine mehr holen, aber für den Teamwettkampf reichte es, und im Mehrkampffinale können Nguyen und Bretschneider, auch wenn sie keine Chance aufs Podest haben, noch mal zeigen, was sie können. Der traurige Toba überlegte tatsächlich, auch im Teamfinale anzutreten, doch daraus wird nichts, wie die Ärzte entschieden. Und doch werden sie noch lange die Geschichte dieses Samstages erzählen, vielleicht sogar ihren Enkelkindern - weil sie viel besser ist als die von mancher Medaille.

© SZ vom 08.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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