Türkei:Doch noch Dritter

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Ende der Torlosigkeit: Burak Yilmaz (rechts) erzielt gegen Tschechien nach 190 Turnierminuten den ersten Treffer für die Türkei. (Foto: Matthias Hangst/Getty Images)

Entgegen aller Erwartungen zeigt die Türkei beim leidenschaftlichen 2:0 gegen Tschechien ihr Potential.

Von Tobias Schächter, Lens

Im türkischen Fußball schwanken die Extreme mehr als anderswo, das gilt ganz besonders für Mannschaften, die von Fatih Terim trainiert werden. Der 62 Jahre alte Trainer, den sie wegen seiner Erfolge "Imparator" (Kaiser) nennen, stand nach zwei Pleiten gegen Kroatien (0:1) und Spanien (0:3) zu Beginn der EM in den vergangenen Tagen in der Heimat schwer in der Kritik. Die Ausgangslage vor dem letzten Gruppenspiel gegen Tschechien am Dienstag in Lens schien angesichts der Leistungen der Türken bis dahin fast aussichtslos: Nur ein Sieg mit mindestens zwei Toren Unterschied hätte theoretisch die Chance erhalten, als einer der vier besten Gruppendritten in die Ko.-Runde dieser EM einzuziehen. Und genau so kam es dann auch.

Nach der frühen Führung für die Türken durch Burak (10.) entwickelte sich eine packende Partie, die Tschechen wären ja mit einem Sieg sicher fürs Achtelfinale qualifiziert gewesen. Die Aussichten der Türken schwankten zwischen Sensation und Krise, immer war es unruhig, nie war es klar - der ganz normale Terim-Wahnsinn also. Ozan Tufan traf noch zum 2:0 (65.) - und darf als Gruppendritter nun tatsächlich noch auf den Einzug ins Achtelfinale hoffen. Am Mittwoch endet die Gruppenphase, dann wird sich zeigen, ob dieser wilde Erfolg die Zukunft bei diesem Turnier gesichert hat oder nicht.

Böller und Rauchfackeln: Auf den Rängen brodelte es

"Biz Bitti Demeden Bitmez" - "Es ist nicht vorbei, solange wir es nicht sagen!" So lautet der Slogan der türkischen Nationalmannschaft während der EM in Frankreich - am Dienstagabend in Lens füllte die Elf dieses Motto tatsächlich mit Leben. Das war erstaunlich nach den ersten, unruhigen Tagen bei diesem Turnier.

Gegen Spanien wurde Kapitän Arda bei jeder Aktion ausgepfiffen. Dem Spieler vom FC Barcelona, der zu Terim mehr als eine Spieler-Trainer-Beziehung hat, fehlt die Wettkampfpraxis, weil er in Barcelona selten zum Einsatz kommt. Nach den Pfiffen gegen Arda hatte sich sogar Staatspräsident Erdogan in die Debatte eingemischt: "Schämt ihr Euch nicht", fragte er: "Bis heute haben wir unseren Kapitän in den Himmel gehoben, er ist zum besten Team der Welt transferiert worden, dreht einen Werbefilm nach dem anderen. Was ist passiert, dass er jetzt ausgebuht wird?" Gegen Tschechien wurde Arda von den türkischen Anhängern bei fast jeder Aktion wieder gefeiert wie ein Volksheld. Sündenbock ist man im türkischen Fußball so schnell wie ein Held - und umgekehrt.

Nach Tufans 2:0 zündeten die türkischen Fans auf den Tribünen Böller und Rauchfackeln, es herrschte eine Stimmung wie bei einem Derby in Istanbul. Auch Terim war hart kritisiert worden. Über Grüppchenbildung im Team und einen Prämienstreit wurde spekuliert. Er wähle die falsche Taktik und das falsche Personal. Diese Selbstzerfleischung kennt Terim, er wurde bei seinen je drei Amtszeiten bei Galatasaray und in der Nationalmannschaft sowie bei seinem Ausflug zum AC Mailand schon übel vom Hof gejagt.

Nun aber wurde auch seine schwangere Tochter, die bei der Niederlage gegen Spanien in Nizza auf der Tribüne gesessen hatte, in den sogenannten sozialen Netzwerken beleidigt. Terim zürnte am Abend vor dem Spiel gegen Tschechien: "Ich bin wütend, frustriert, ich bin kein Mann aus Eisen. Ich habe Gefühle."

Terims Kritiker in der Türkei zitierten dieser Tage ja genüsslich aus einem neuen Buch des früheren italienischen Nationalspielers Andrea Pirlo, der dem Trainer in dessen Zeit beim AC Mailand taktische Ahnungslosigkeit vorwirft. Gegen Tschechien änderte Terim seine Startaufstellung endlich, Hakan Calhanoglu zum Beispiel saß auf der Ersatzbank. In Volkan Sen und dem 18 Jahre jungen Emre Mor, der in der kommenden Saison bei Borussia Dortmund spielen wird, versuchte Terim mehr Tempo nach vorne auf den Platz zu bringen. Mit Erfolg: Mor bereitete das Führungstor vor.

Zu gerne würde Fatih Terim noch einmal beweisen, dass er eine Mannschaft für einen Moment besser machen kann als sie es tatsächlich ist. Am späten Mittwochabend weiß er, ob er dieses Gespür bei dieser EM doch noch nachweisen darf.

© SZ vom 22.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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