Schweiz:"Ich weiß, dass ich polarisiere"

Lesezeit: 4 min

Stephan Lichtsteiner am Ball im letzten Gruppenspiel der Schweiz gegen Costa Rica. (Foto: Johannes Eisele/AFP)

Der Schweizer Kapitän Lichtsteiner spricht über die Chancen seines Teams, die Hintergründe des Doppeladler-Jubels - und warum auch er ihn gegen Serbien gezeigt hat.

Interview von Thomas Schifferle

SZ: Herr Lichtsteiner, die Schweiz hat sich zum dritten Mal seit 2006 für das Achtelfinale bei einer Weltmeisterschaft qualifiziert. Was ist nun noch möglich?

Stephan Lichtsteiner: Schweden ist machbar. Wenn wir weiterkommen, haben wir mit England oder Kolumbien einen sehr guten Gegner, aber es ist keiner wie ­Argentinien, von dem du vor vier Jahren sagtest: Okay, da brauchst du ein Wunder, um zu gewinnen. Wir sind in den letzten drei Turnieren immer über die Gruppenphase hinausgekommen - und das souverän. Zweimal sind wir im Achtelfinale knapp ausgeschieden. Ich ­glaube, dass es nun endlich klappen wird.

Viertelfinale also.

Ja. Das muss unser Anspruch sein. Und wir wissen alle, wie viel dafür stimmen muss.

Was macht diese Mannschaft aus, gerade im Vergleich zu 2014? Was ist jetzt anders als damals?

Die Hauptpunkte sind die Erfahrung, die Reife, das Vertrauen. Jetzt haben wir eine super Qualifikation für die EM hinter uns, eine sehr gute EM, eine super Quali­fikation für diese WM mit zehn Siegen in zwölf Spielen. Das hat Vertrauen ­gegeben, das sah man beim Test gegen Spanien, das Gleiche gegen Brasilien, auch da glichen wir einen Rückstand aus. Gegen Serbien machten wir nach zwanzig sehr schweren Minuten ein sehr, sehr gutes Match und gewannen 2:1.

Das zeigt ...

... genau das zeigt, dass diese Mannschaft reifer geworden ist, dass sie nicht nervös wird, weil sie ihre Qualitäten kennt. Sie weiß, wenn sie ruhig bleibt, kann sie ­diese auch abrufen. Dazu kommt, dass fast alle auf höchstem Level spielen und dass immer mehr bei Topklubs spielen, wo sie wichtige ­Erfahrungen gemacht haben, mit Siegen, mit Kritiken, mit dem Druck, gewinnen zu müssen.

Was fehlt dieser Mannschaft eigentlich? Ein absoluter Torjäger?

Natürlich willst du einen Stürmer, der aus nichts ein Tor machen kann. Trotzdem sage ich: Unsere Stürmer arbeiten defensiv so hervorragend, sie bewegen sich gut, sind immer anspielbar, gehen in die Tiefe. Vielfach werden sie aufs Toreschießen reduziert. Aber ich bin sehr zufrieden mit ihnen. Und nicht vergessen: Josip Drmic hat gegen Costa Rica getroffen.

Den besonderen emotionalen Moment gab es beim Spiel gegen Serbien, mit dem ­Doppeladler-Jubel von Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri - und zur großen Überraschung auch von Ihnen. Was ist da in der Mannschaft passiert?

Wenn du ein solches Turnier anschaust, weißt du: Du hast drei Spiele, da musst du bereit sein, und wenn du es nicht bist, dann... (bricht ab) In den Köpfen war am Anfang drin: Die Konstellation ist sehr wahrscheinlich so, dass wir das zweite Spiel gewinnen müssen. Wir begannen mit dem 1:1 gegen ­Brasilien, alles gut. Aber dann kommen die Provokationen...

... vor dem Spiel gegen Serbien.

Ja, zwei, drei Tage vorher schon. Die Spieler lesen viel, sie hören viel: Das sei ja nicht die Schweiz, die spiele, sondern eine albanische ­Auswahl... Unschön. Dann kennt man die Geschichte der Eltern von Mitspielern.

Wie von Xhakas Vater, den die Serben über drei Jahre ins Gefängnis gesteckt hatten.

Trotzdem gehen wir nicht ins Spiel und empfinden Hass. Sondern wir wissen: Wir stehen unter Druck, wir müssen gewinnen. Es geht nur ums Sportliche. Wir beginnen schlecht, kriegen das 0:1, schrammen am 0:2 vorbei und gehen in die Pause. In der Kabine gibt es zuerst ziemlich viel Unruhe, wir reden miteinander: "Jungs, bleiben wir ruhig." Wir machen eine super zweite Hälfte, Granit erzielt das 1:1, jubelt so ...

...  mit dem Doppeladler...

... das ist keine böse Geste oder so. Es ist nur Freude ohne Ende. In der 90. Minute machen wir durch Xherdan das 2:1, wir wissen: He, die Qualifikation für das Achtel­finale ist jetzt ganz nah. Das ist so emotional, nichts von dem, was dann passiert, ist geplant. Es geht um Druck, um Emotionen.

Und dann jubeln Sie mit.

Wenn ich als Kapitän nicht solidarisch bin, wer soll es sonst sein? Wenn du dich nicht für deine Kollegen, Freunde, Lieben einsetzt, auch wenn du dich damit unbeliebt machst, hast du als Mensch wenig Werte. Es ist ein solidarischer Akt. Das hat uns noch mehr zusammengeschweißt: die 90. Minute, in einem solchen Spiel  .  .  .

Aber Ihre Reaktion, Ihr Adler, war das ein bewusster Akt?

Nein, er kam aus der Emotion heraus, aus der Solidarität. Ich musste zuerst überlegen, wie man den überhaupt macht. (lacht)

Haben Sie das Gefühl, dass die albanischstämmigen Spieler Ihnen dankbar sind? Dass sie sich sagen: Für unseren Kapitän sind wir jetzt erst recht da?

Es geht darum zu zeigen: Wir sind eine Einheit. Wir sind ein Land mit viel Multikulti. Ich weiß, dass das Thema spaltet, dass es für viele kein Grau gibt, sondern nur Weiß oder Schwarz. Ich weiß, dass ich ein Mensch bin, der polarisiert. Viele haben sich wohl gefragt: Wieso setzt sich der Lichtsteiner für die ein? Vor drei Jahren hat er doch...

...  damals regten Sie eine Diskussion um kulturelle ­Offenheit an und um Schweizer Identifikationsfiguren, die man nicht vergessen dürfe ...

... unter anderem, ja, und genau darum habe ich mich jetzt für Granit und Xherdan eingesetzt. Ich stehe für die Schweizer Werte ein und schaue, dass sie verteidigt werden. Solidarität ist ein Schweizer Wert, Integration ist ein anderer. Der Schweizer muss offen sein und versuchen zu helfen, damit Integration möglich wird. Wir haben ein Land, das so hervorragend funktioniert. Wenn wir es fertigbringen, solidarisch zu sein, kann es noch besser werden. Darum ist es mir gegen Serbien nie um einen politischen Akt gegangen, überhaupt nicht! Sondern nur darum: zu helfen und Farbe zu bekennen.

Was lernen Sie aus dem Vorfall?

Dass wir uns sagen: Probieren wir, die Emotionen im Griff zu haben! Gehen wir nicht über ein Limit! Aus den Emotionen heraus kann viel ganz spontan passieren. Aber wenn alle nur noch sagen: Okay, Tor, okay, Achtelfinale, Händeschütteln, fertig - dann stimmt doch etwas auch nicht mehr.

© SZ vom 01.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: