Schweiz - Brasilien (20 Uhr):Der Eiskalte

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Ricardo Rodriguez spielte für den FC Zürich und für den VfL Wolfsburg, bevor er vor einem Jahr zum AC Mailand wechselte - für eine Ablöse von 15 Millionen Euro. Er gilt mittlerweile als einer der stärksten Linksverteidiger der Welt. (Foto: Fabrice Coffrini/AFP)

Als Kind eiferte er Diego Maradona nach, nun ist der frühere Wolfsburg Ricardo Rodriguez zumindest auf seiner Position des Linksverteidigers herausragend - und ungewohnt ambitioniert für einen Schweizer.

Von Thomas Schifferle, Rostow am Don

Ricardo Rodriguez ist nicht der Typ, der nach einem Spiel alles, was passiert ist, in lange Sätze verpackt. Ricardo Rodriguez verknappt stattdessen, drückt sich geradliniger aus. In diesen Tagen in der Schweizer Basisstation Toljatti, unweit vom WM-Spielort Samara, wurde der Schweizer Linksverteidiger gefragt, wie das jetzt so sei dort in Toljatti. Er ist nicht der erste, der darüber berichten sollte. Torwart Yann Sommer hatte zum Beispiel von einem "sehr idyllischen" Ort geredet. Rodriguez sagte stattdessen: "Am Anfang habe ich gedacht: Wo sind wir jetzt hier?"

Man muss auch erst mal auf die Idee kommen, Toljatti, diese Autostadt 1000 Kilometer südöstlich von Moskau, zum Basislager zu machen. Doch der Schweizer Fußballverband (SFV) hat sich ganz bewusst dafür entschieden: wegen des Hotels an der Wolga und des frisch verlegten Rasens im Trainingsstadion. Die Schweizer sind gut aufgenommen worden. "Das hat er gut gemacht", sagt Rodriguez, 25, zur Entscheidung des SFV.

Das Team ist gut abgeriegelt in Togliatti. Nur eine kleine Straße führt zum Quartier, das einem Hochsicherheitstrakt gleicht, wie das bei großen Fußballturnieren inzwischen der Standard ist. Am Sonntag gibt es allerdings kein Verstecken mehr, am Sonntag spielt die Schweiz gegen Brasilien (20 Uhr). "Gut, dass es losgeht", sagt Rodriguez. "Das erste Spiel. Viel ist möglich. Klar wollen wir gewinnen."

Vor ein paar Wochen wurde er schon einmal zur WM befragt, zu den Aussichten für die Schweiz, was denn in Russland wohl möglich sei. Auch da redete er in kurzen Sätzen, und auch da waren seine Ansagen klar. "Ich will ins Finale", sagte er.

50:50 standen seine Chancen als Neugeborenes

Damals saß Rodriguez in seiner Heimat Schwamendingen, einem Stadtkreis von Zürich. Es ging um das Buch "Rodriguez - Drei Brüder, eine Familie". Die Rückkehr zu den Wurzeln war eine Werbeveranstaltung dafür, mit Bier und Würsten, die gesponsert waren, Festbänken, einem Lastwagen als Bühne und dem Schweizer TV-Moderator Röbi Koller, der den drei Rodriguez-Brüdern, alle Fußballprofis, Fragen stellte.

Koller fragte Ricardo noch weiter nach der WM, nach den Chancen für die Schweiz. Und Ricardo sagte Rodriguez-Sätze: "Wir haben eine gute Mannschaft. Wir haben es zweimal in das Achtelfinale geschafft. Jetzt denke ich, dass wir das Viertelfinale schaffen müssen." Und eben: "Ich will ins Finale. Das ist ja normal."

Das ist normal? Bei vielen würde sich so eine Ansage vielleicht arrogant anhören, aber nicht bei Ricardo Rodriguez, denn er ist vieles, nur eines nicht: arrogant. Er selbst mag eine Eigenschaft, ein Wort für sich um einiges lieber. Eiskalt. Zumindest macht er diesen Eindruck, weil er das Wort in seine Sätze immer wieder einbaut. "Wir müssen eiskalt sein", sagte er vor dem Spiel gegen Brasilien. Auf dem Feld ist er einer der ruhigsten Schweizer.

Das muss in seinen Genen liegen, an seiner Geschichte, die vor knapp 25 Jahren mit einer schweren Krankheit begann. Da war diese Zwerchfellhernie, die Bauchorgane waren falsch platziert, mehrere Operationen waren nötig. Die Ärzte sagten, die Chancen stehen 50:50 für den kleinen Ricardo, und bestellten einen Pfarrer. "Ich habe viel gesehen", sagte Rodriguez auf dem Lastwagen zu Koller, "auch Kinder, die noch schlimmer ausgesehen haben als ich."

Mit 10, 12 Jahren war Rodriguez klar, wo er hinwollte

Er hatte den Willen zu überleben, sich durchzusetzen. Und er hatte das Glück, über ein Talent zu verfügen, das viele andere nicht haben, sein fußballerisches Talent. Mit 10, 12 Jahren legte er sich fest, was er werden wollte. In der Schule war er nicht gut, "ich ging auch nicht so gerne hin", erzählte er einmal, "also war mir klar, dass ich etwas machen musste, das ich beherrschte. Da bot sich der Fußball an."

Er machte den Weg, den die Ärzte ihm nicht zugetraut hatten. Und wenn es nicht geklappt hätte? "Ich befürchte, dass es schwierig geworden wäre."

Die Familie hätte ihn schon aufgefangen, mit dem Vater aus Spanien und der Mutter aus Chile. Die Mutter, Marcela, war die starke Kraft der Rodriguez'. Sie betete, dass ihre drei Söhne es schaffen, Profis zu werden. Ricardo sagt: "Wir glauben an Gott. Ein Tor widmen wir immer unserer Mutter. Sie schaut immer zu." Die Mutter ist im November 2015 an Krebs gestorben. Die drei Söhne tragen im Klub die 68 zu ihren Ehren, es ist ihr Jahrgang.

Ricardo spielte für den FC Zürich und für den VfL Wolfsburg, bevor er vor einem Jahr zum AC Mailand wechselte - für eine Ablöse von 15 Millionen Euro. Er gilt mittlerweile als einer der stärksten Linksverteidiger der Welt. Auch wenn es mit dem großen Ziel als Spielmacher nicht geklappt hat: "Früher wollte ich Maradona sein."

Wer Rodriguez beim Nationalteam sucht, muss nur nach Xhaka Ausschau halten

Trotzdem debütierte er mit 19 fürs Nationalteam, zwei Jahre nachdem er die Schweiz gemeinsam mit dem früheren Gladbacher Granit Xhaka überraschend zum Gewinn der U-17-WM in Nigeria führte. Wer ihn seit jenem Tag neben dem Platz sucht, muss nur nach Xhaka Ausschau halten. Die beiden sind unzertrennlich, "Pilz" nennen sie einander, einfach so.

Seit seinem Debüt gibt es auch keine Frage mehr, wer bei der Schweiz links hinten verteidigt. Dass er nicht so dynamisch wie andere wirkt, soll nicht zum Eindruck verleiten, er sei langsam. Rodriguez ist vor allem gedanklich schnell. Das hilft ihm, auch Sprinter wie Robben oder Di Maria zu kontrollieren. Zudem tritt er Freistöße, Ecken und Elfmeter.

So war das letzten November, im verregneten Belfast, als die Schweiz in den WM-Playoffs gegen Nordirland einen Elfmeter zugesprochen bekam. Es stand 0:0, die Chance zum Sieg in der 58. Minute. "Es käme nicht gut, wenn ich in diesem Moment Angst hätte", dachte er sich. Er legte sich den Ball hin, lief an, sah, dass der Torhüter in eine Ecke sprang, und schob den Ball in die andere. Die Schweiz war qualifiziert.

Später am Abend wurde Rodriguez noch gefragt, was das für eine Qualität sei. Er sagte: "Entweder kann man das oder man kann es nicht. Ich kann es einfach." So einfach ist das. Rodriguez ist eiskalt.

© SZ vom 17.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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