Radsport:Rock für die Monumente

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John Degenkolb soll eines der Gesichter des neuen deutschen Radsports sein. Mit seinem Sieg bei Mailand - Sanremo steigt er endgültig in die Reihe der besten Klassiker-Spezialisten des Pelotons auf.

Von Johannes Aumüller

Als sie sich im Hard-Rock-Café von Nizza versammelten, wären sie auch leicht als eine Gruppe von Kommilitonen durchgegangen, die sich noch einen netten Abend macht. Ganz entspannt sahen sie aus, manche mit einem Bier in der Hand, der in der Mitte mit einer Baseballmütze auf dem Kopf - und nur mit Mühe ließen sich Anzeichen finden, dass diese Männer nicht frisch aus dem Hörsaal der nahegelegenen Université Nice Sophia Antipolis hereingeschneit waren, sondern kurz zuvor auf dem Rad 300 Kilometer quer durch Norditalien absolviert hatten.

Voller Stolz hat John Degenkolb dieses Bar-Foto am späten Sonntagabend um die Welt geschickt, kommentiert mit dem Wörtchen "Rock'n'Roll". Er war der Mann in der Mitte mit der Baseballmütze, um ihn herum hatten sich seine Kollegen vom Giant-Alpecin-Team gruppiert, um Degenkolbs bisher größten Erfolg als Radprofi zu feiern: den Sieg beim Frühjahrsklassiker Mailand - Sanremo, einem der fünf sogenannten Monumente seines Sports, den prestigeträchtigsten Eintagesrennen.

John Degenkolb, 26, gehört zu den neuen Gesichtern, die der deutsche Radsport in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat. Am Anfang galt er als Sprinter, der auch gut mit anspruchsvolleren Profilen zurecht kommt; inzwischen ist er ein Allrounder, der eben auch gut sprinten kann. Prädestiniert für solche Auftritte wie bei der Dubai-Rundfahrt vor wenigen Wochen, als er selbst Leute wie Alejandro Valverde im Bergauf-Sprint distanzierte, ehe er im Zielraum kollabierte. Oder für Aufgaben wie bei der "Primavera" von Mailand nach Sanremo, dieser langen Fahrt in den Frühling mit den zwei knackigen Hügeln Cipressa und Poggio kurz vor dem Ziel: Eine Gruppe von etwas mehr als 30 Fahrern kam gemeinsam auf die Ziellinie zu, Degenkolb blieb cool und ging erst spät in den Wind. "Ich habe einfach die letzten drei Kilometer gar nicht daran gedacht, dass es Sanremo ist, habe es als Spaß, als Spiel angesehen", sagte er.

Deutschland will nach all den dopingverseuchten Jahren jetzt wieder wer sein in der Radsport-Welt. Seit Januar fährt mit Degenkolbs Giant-Alpecin-Equipe erstmals nach fünfjähriger Pause eine Mannschaft unter deutscher Lizenz in der World Tour mit, im Sommer kehrt die ARD in die Live-Berichterstattung der Tour de France zurück. Und John Degenkolb, geboren in Gera, ausgebildeter Polizist und inzwischen in Frankfurt am Main zu Hause, soll dabei eine zentrale Rolle zukommen. Er weiß sich auch durchaus so zu geben, dass er beim Publikum ankommen kann. Ein selbstbewusster Typ, Befürworter eines Anti-Doping-Gesetzes, meist gut gelaunt, oft ein bisschen schlitzohrig und mit einem guten Spruch auf Lager. Kein so ein Durchgeknallter wie der Slowake Peter Sagan, der sich immer mal wieder eine Flegelei erlaubt und die Rahmen seiner Räder mit kuriosen Bildern lackiert; aber sicherlich ein größerer Rock'n'Roller als der durchschnittliche Vertreter dieses Radsport-Pelotons. Im Januar ist Degenkolb Vater geworden, das habe ihn noch entspannter und lockerer gemacht, findet er.

"Ich bin noch lange nicht satt": John Degenkolb (Mitte, im dunklen Trikot) sprintet zum Sieg beim Rad-Klassiker, der von Mailand nach Sanremo führt. (Foto: Daniel Dal Zennaro/Ap)

International, in den klassischen Radsport-Ländern wie den Niederladen oder Belgien, hat er sich mit seinen Erfolgen längst ein erstaunliches Renommee erarbeitet. Dass ihn bei einem Trainingstag in den Ardennen jemand erkennt, ist immer noch wahrscheinlicher als bei einer Tour durch den Taunus. Das hat zum einen mit der aus vielerlei Gründen immer noch grundsätzlichen Skepsis vieler Deutscher gegenüber der Rad-Szene zu tun. Nicht nur die Skandale der Vergangenheit haben diese erzeugt, sondern auch manche Entwicklung der Jetzt-Zeit. Jüngst hat selbst der Bericht der vom Rad-Weltverband (UCI) eingesetzten Kommission Circ festgehalten, dass nach Ansicht vieler Fahrer aus dem Peloton verbotene Substanzen und Methoden immer noch weit verbreitet sind. Oder dass mindestens 69 Ärzte, die in den vergangenen Dekaden in Dopingfälle involviert waren, mit Radprofis arbeiten.

Noch ist das Interesse an der Tour größer als das an den Frühjahrsrennen

Zum anderen gibt es bei Degenkolb auch noch einen Radsport-spezifischen Aspekt. Seine Welt sind die Monumente, die Klassiker und Eintagesrennen - aber Radsport in Deutschland, das war und ist immer noch vor allem die Tour de France. Jan Ullrich kannten Ende der Neunziger und Anfang der Nullerjahre alle; Steffen Wesemann war schon eher ein Fall für die Spezialisten - und im Zweifel mindestens so sehr als Helfer Ullrichs bekannt wie als ausgewiesener Eintages-Experte, der unter anderem die Flandern-Rundfahrt gewann. Auch heute ist das Interesse noch größer, wenn Marcel Kittel einen seiner Tour-Etappensiege ersprintet als bei Degenkolbs Klassikerfahrten. Die Tour ist wieder zurück bei der ARD, Mailand - Sanremo aber kam live bei Eurosport, durchschnittliche Zuschauerzahl: wenig mehr als 200 000.

Degenkolb und seine Mitstreiter hoffen, dass sich das bald ändert. Er setzt weiter auf die Klassiker, der Sieg am Sonntag soll nur der Auftakt für ein gutes Frühjahr gewesen sein. Vor allem Paris - Roubaix, diese Schinderei über die Kopfsteinpflaster Nordfrankreichs, hat es ihm angetan, im vergangenen Jahr schaffte er es dort schon einmal auf den zweiten Platz. Aber daneben will er auch im Sommer bei der Frankreich-Rundfahrt starten - und dort endlich seine erste Etappe gewinnen.

© SZ vom 24.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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