Radsport:Anarchie im Urwald

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Auf den letzten Metern: Der Belgier Greg van Avermaet (rechts) setzt sich vom Dänen Jakob Fuglsang ab. (Foto: Javier Etxezarreta/dpa)

Einst Ersatztorwart in Belgiens höchster Fußballliga, jetzt Olympiasieger im Straßenradrennen: Greg Van Avermaet nutzt seine Chance

Von Johannes Knuth

Vor dem olympischen Straßenradrennen hatte Greg Van Avermaet seine Chancen auf fünf Prozent hochgerechnet. Was sollte er schon ausrichten auf einem Kurs, der 237 Kilometer lang eine Gemeinheit an die nächste reiht? Kopfsteinpflaster auf Straßen, breit wie Feldwege, viel Urwald mit vielen Hügeln, auf die es recht steil hinaufging, bis zu 18 Prozent am Vista Chinesa. Und wenn es mal nicht irgendwo steil hinaufging, ging es steil wieder runter, bevorzugt auf Straßen, die auch nicht breiter waren als Feldwege. "Ich war sicherlich nicht der beste Fahrer im Feld", sagte Van Avermaet nach dem Rennen, "der Kurs lag eigentlich über meinen Fähigkeiten." Wenn er diesen Ritt noch einmal durchmachen müsste, er würde sich noch immer fünf Prozent einräumen, sagte er. Auch als frisch gekürter Olympiasieger.

Manchmal muss man eine Chance nutzen, die man gar nicht hat, und Greg Van Avermaet, 31, aus Lokeren/Belgien hat sich dafür am Wochenende das olympische Straßenrennen ausgesucht. Er war ein guter Fahrer in der Jugend, bei den Erwachsenen gelang ihm aber nur der eine oder andere Etappensieg. Bei der Tour de France gewann er vor einem Monat den fünften Abschnitt, 2011 siegte er beim Herbstklassiker Paris-Tours. Aber wenn man auf einen Kurs derart viele Fallen legt, so wie es die Organisatoren am Wochenende in Rio de Janeiro taten, dann weitet man das Feld der Favoriten. Weil das Rennen an jeder zweiten Ecke halt in die eine oder andere Richtung kippen kann. "Jede Gefahr, die dir in einem Rennen zu schaffen machen könnte, steckt in diesem Kurs", sagte der Neuseeländer George Bennett. Für die Veranstalter hatte das den schönen Nebeneffekt, dass bei der Fahrt durch Stadt, Land und Urwald ein inoffizieller Werbefilm für die Tourismusregion Rio entstand. Wer das sechs Stunden lange Rennen im TV begutachtete, musste den Drang verspüren, zwingend diese Stadt zu bereisen. Nur vielleicht lieber nicht per Rennrad.

Von 144 Startern schieben sich nur 65 ins Ziel - etliche Fahrer stürzen und erleiden Knochenbrüche

Die Organisatoren bekamen jedenfalls das Rennen, das sie sich offenbar gewünscht hatten, "voller Anarchie", wie der Amerikaner Brent Bookwalter befand. Von 144 Startern schoben sich bloß 65 ins Ziel. Der Iraner Mirsamad Pourseyedi bremste vor einer Kehre zu spät, er prallte mit dem Kopf gegen eine Mauer, die neben der Kurve aufragte; offenbar kam er mit einer Gehirnerschütterung davon. Als besonders gefährlich erwies sich ein Nadelöhr, wenn es den Vista Chinesa hinunterging, eine Links-Rechts-Kehre. Dort verunfallten der Australier Richie Porte (Schulterblattbruch) und der Brite Geraint Thomas. Auf der letzten Schleife erwischte es die Führenden, den Italiener Vincenzo Nibali (Schlüsselbein) und den Kolumbianer Sergio Henao (Beckenbruch). War der Kurs zu brutal? "Wenn es um einen Olympiasieg geht, riskiert jeder ein wenig mehr. Ein paar haben das Limit überschritten", sagte Van Avermaet trocken. Dass das vielleicht nicht die beste Idee war, legten Straßenschilder 100 Meter vor der Kurvenkombination nahe: Dort wurde Tempo 30 vorgeschlagen.

Van Avermaet und der Däne Jakob Fuglsang, der im Spurt Zweiter wurde, hatten sich vor Nibalis Unfall hinter die Führenden geklemmt, genau im richtigen Moment. Sie passierten die Gefahrenstelle problemlos, auf dem vorletzten Kilometer stellten sie noch den Polen Rafal Majka. Christopher Froome, der Tour-de-France-Sieger und Favorit, wurde Zwölfter, zwei Plätze vor Emanuel Buchmann, dem besten Deutschen. "Ich habe ein wenig riskiert, aber nicht zu viel. Wenn du auf dem Boden liegst, ist das Rennen vorbei", sagte Van Avermaet. Die besten Freiluftsportler kennen ihre Grenzen, sie sind abenteuerlustig, aber nicht waghalsig.

Und jetzt also: Olympiasieger. "Sehr besonders", fand Van Avermaet, "das bist du ein Leben lang." Er hakte brav die Dienste und Pflichten eines Olympiasiegers ab, der nach seiner Tat ja nach allem Möglichen befragt wird. Nach der Biografie (war mal Fußballer), nach Position (Torwart) und Karriereverlauf (Ersatz beim Erstligisten KSK Beveren, mit 18 aufgehört). Auch über die Sicherheitsdebatte in Rio ("wir müssen einfach an das Gute im Menschen glauben") und nach Buntem ("mein Vater war 1980 Straßenrennfahrer bei Olympia in Moskau. Er hat später im Anzug der belgischen Mannschaft geheiratet").

Die Disziplinkommission des belgischen Verbandes hat schon gegen ihn ermittelt

Ein Punkt im Lebenslauf wurde nicht abgearbeitet: 2012 hatte die Disziplinkommission des belgischen Radsportverbandes gegen ihn ermittelt, sie hatten belastende E-Mails zwischen ihm und dem umstrittenen Sportmediziner Chris Mertens gehoben. Van Avermaet soll sich dort zwischen 2009 und 2012 mit Kortisonpräparaten eingedeckt haben. Nur für eine Verletzung, beteuerte der Fahrer damals, mit Genehmigung. Der Anwalt des Radsportverbandes sah das anders, die Mails legten nahe, dass der Fahrer "unter dem Einfluss von Kortison" fahren wollte, nicht "um eine Verletzung zu heilen". Die hauseigene Kommission sprach Van Avermaet 2015 frei.

"Wir arbeiten alle hart, jeder gibt alles", sagte Van Avermaet in Rio nur, mit Bescheidenheit in der Stimme, "ich bin ein sehr glücklicher Mensch, der hier sitzen darf mit der Goldmedaille um seinen Hals." Und: "Ich denke schon, dass dies der Höhepunkt meiner Karriere ist. Besser", glaubt Greg Van Avermaet, "wird es nicht mehr."

© SZ vom 08.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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