Polen:Der Kaffeesatz der Party-Gesellschaft

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Zu wenig beachteter Zuarbeiter der beiden Offensivasse: Polens Artur Jedrzejczyk feiert den Torschützen Arkadiusz Milik (l.). (Foto: Valery Hache/AFP)

Im polnischen Team sichern unterschätzte Alleskönner und unbekannte Zuarbeiter die Angriffsstars um Lewandowski ab.

Von Thomas Hummel, La Baule

Einen Tag war der tolle Auftritt der polnischen Mannschaft im Stade de France alt, da bestimmte ein Wort die Debatte rund um das Team: Fusy - Kaffeesatz. Artur Jedrzejczyk hat diesen Ausdruck ins Teamquartier in La Baule an der Atlantikküste eingeführt, was zwei Schlüsse zulässt: Der Linksverteidiger weiß nicht, wovon er spricht. Oder er entpuppt sich als erster Philosoph des Turniers.

Jedrzejczyk bezeichnet damit eine Gruppe von Spielern, die nicht in einer der großen Ligen im Ausland spielt. Von denen kein Fan ein Selfie oder ein Autogramm haben möchte. Die unerkannt durch die Interviewzonen gehen. Das Überbleibsel, während die anderen für den Genuss zuständig sind. Jedrzejczyk selbst gehört dazu, er ist gerade vom russischen Klub FK Krasnodar zu Legia Warschau ausgeliehen worden, dort spielt er mit Michal Pazdan; Krzysztof Maczynski (Wisla) und Bartosz Kapustka (Cracovia) kommen aus Krakau. Mit ein paar anderen füllen sie praktisch den Kader auf hinter den verehrten Lewandowski, Milik, Krychowiak. Sie sind der Rest, der Kaffeesatz. Fusy.

Wenn Jedrzejczyk das sagt, schwingt allerdings keinerlei Neid oder Ärger mit. Es ist eher Ausdruck der harmonischen, fröhlichen, teilweise fast partyähnlichen Stimmung, die in La Baule herrscht. Es wird viel gelacht, in etlichen Videos haben die Spieler bereits ihre Späße mit der polnischen Öffentlichkeit geteilt. Und nun kommt Jedrzejczyk und erklärt sich selbst zum Kaffeesatz. Ausgerechnet jetzt.

Vielleicht weiß der 29-Jährige ja, dass Kaffeesatz nur vorgeblich einen schlechten Ruf hat und keineswegs dazu bestimmt ist, sogleich im Bio-Müll zu landen. Er entkalkt Rohre, entfernt Fett, kann ein Dünger für den Garten sein. Es soll Menschen geben, die sich mit einer Öl-Kaffeesatz-Mischung die Haut peelen. Kaffeesatz ist ein unterschätzter Alleskönner.

Trainer Nawalka nennt die Helfer der Stars schon seine "Ritter"

So haben Jedrzejczyk und seine Fusy-Kollegen spätestens am Donnerstag im Stade de France gezeigt, wie viel sie wert sind für ihr Team. Polen war mit dem Ruf nach Frankreich geflogen, eine der offensivstärksten Mannschaften im Turnier zu sein. Robert Lewandowski, Arkadiusz Milik, Kamil Grosicki, Jakub Blaszczykowski - die Polen hatten in der Qualifikation so viele Tore wie kein anderes Team erzielt. Doch nun stellt sich heraus, dass die Mannschaft auch gut verteidigen kann. Die deutsche Offensive hat beim 0:0 sicher einiges falsch gemacht, die polnische Defensive aber auch vieles richtig. Trainer Adam Nawalka nennt die unbekannten Zuarbeiter seiner Glitzerstars schon seine "Ritter".

Vor allem Michal Pazdan überraschte selbst die polnischen Beobachter mit einer großartigen Abwehrleistung. War der 28-Jährige in der Vorbereitung noch scharf kritisiert worden, gerade nach dem 1:2 gegen die Niederlande, prallten die Deutschen in praktisch jedem Angriff an ihm ab. Nawalka kennt ihn noch aus gemeinsamen Zeiten bei Gornik Zabrze und hält fest zu ihm. Die von Bundestrainer Joachim Löw als Schwachstelle definierte Abwehrmitte mit Pazdan und Kamil Glik vom FC Turin verwandelte sich in St. Denis in eine undurchdringliche Wand. Unterstützt vom defensiven Mittelfeld, dem auch der Krakauer Maczynski angehörte.

Manche Polen fühlen sich erinnert an die große Mannschaft der Siebziger, als um den brillanten Spielgestalter Kazimierz Deyna eine Gruppe Unbekannter zu Platz drei bei der Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland stürmte. Dass Robert Lewandowski noch nicht groß in Erscheinung getreten ist in den zwei bisherigen Partien sehen viele sogar als Vorteil. Wenn der Nationalheld nun auch noch sein Talent im gegnerischen Strafraum zeigt, scheint für Polen fast alles möglich zu sein.

Die größte Gefahr vor dem letzten Gruppenspiel sehen deshalb viele im Übermut, die Mannschaft könnte deshalb an Spannung verlieren. In Polen nimmt die Euphorie um das Team zu, zum ersten Mal seit 1986 steht die Nationalmannschaft kurz davor, wieder eine Gruppenphase in einem großen Turnier zu überstehen. Ein Unentschieden gegen die Ukraine reicht dazu, selbst eine Niederlage bedeutet nicht automatisch das Aus. Doch Lewandowski warnt: "Reden wir bitte nicht vom Achtelfinale. Es gibt ja noch ein drittes Spiel." Jeder behaupte, dass es gegen die Ukraine leichter werde, "aber im Gegenteil: Es wird schwieriger", sagt er.

Denn die Stärke des Teams war auch gegen Deutschland der große Einsatz und der Wille, es dem Gegner so schwer wie möglich zu machen. "Wir haben große Qualität und versuchen, unser Pressing umzusetzen", erklärte Trainer Nawalka. In La Baule heißt es, die Mannschaft sei wie ein Hai: Wenn sie stoppt, stirbt sie.

Was ein Hai mit Kaffeesatz anfangen soll, hat die Wissenschaft noch nicht abschließend geklärt. Vielleicht sollte sie dazu mal den Philosophen Artur Jedrzejczyk befragen.

© SZ vom 20.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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