Olympische Spiele in Peking:Liu Xiang aber lebt

Lesezeit: 3 min

Nationalhelden sind den Kommunisten sehr wichtig. Einige Chinesen fühlen sich deshalb vom Ausscheiden des Hürdensprinters Xiang gedemütigt.

Henrik Bork

39 Goldmedaillen hat China bereits gewonnen, ein Ende der unheimlichen Siegesflut war auch am Montagabend nicht abzusehen. Warum dann diese gewaltige Enttäuschung, diese Aufregung über eine einzige verlorene Medaillenchance? Die Reaktion der Chinesen auf Liu Xiangs Scheitern war für Außenstehende nicht zu verstehen. Die Stimmung im Land erinnerte am Montag an Staatstrauer. Der Kommentator des Staatsfernsehens befand es für nötig, die gesamte Nation zu trösten. Vor einem Bild vom Tiananmen, dem Tor des Himmlischen Friedens mit dem riesigen Mao-Porträt, sprach der Kommentator zum Volk: "Auch ein Held kann mal verletzt sein."

"Auch ein Held kann mal verletzt sein." Nach dem Aus von Liu Xiang sahen das nicht alle Chinesen so. (Foto: Foto: Reuters)

Der Hürdenläufer Liu Xiang war in China zum Nationalhelden stilisiert worden. Jedesmal, wenn in den vergangenen Monaten im Fernsehen das Vogelnest zu sehen war, das bezeichnenderweise Nationalstadion und nicht etwa Olympiastadion heißt, hatte der Sprecher dazu den Namen Liu Xiang genannt. Dies sei der Ort, an dem Liu Xiang seine "Krone verteidigen" werde, hieß es dann. Das Nationalstadion werde die Bühne für Liu Xiangs großen Auftritt.

Die Kommunistische Partei hatte Liu Xiang so stark für sich vereinnahmt wie keinen anderen Sportler. Im Frühjahr setzten sie ihn als Abgeordneten in die Politische Konsultativkonferenz. Spätestens da war aus dem bei jungen Chinesen beliebten Sportler auch ein Vorzeigesportler der politischen Führung geworden. Es war Liu Xiang, der das olympische Feuer aus den Händen von Staats- und Parteichef Hu Jintao entgegennahm, als der Fackellauf endlich nach China kam. Auch dies war schon ein symbolisch aufgeladener Moment, den man dem Sportler besser erspart hätte.

Lei Feng, der selbstlose Soldat

Auf dem Platz des Himmlischen Friedens musste der Hürdenläufer unter den Augen der gesamten Nation als erster Chinese ein paar Meter mit der Fackel in der Hand laufen. Spätestens da war aber auch klar: Liu Xiang ist Chinas Sportler Nummer eins, aus Sicht der Kommunisten die wichtigste Figur dieser Olympischen Spiele.

Die Volksrepublik China ist eine Nation, die noch nie ohne Heldenkult ausgekommen ist. Früher hat die Partei sich ihre Helden selbst geschaffen gewissermaßen aus der Retorte. Der berühmteste Vorfahre Liu Xiangs ist Lei Feng, der selbstlose Soldat der Roten Armee. Mao selbst hatte diesen Heldenkult entfacht. Lei Feng, der stets Gutes tuende Kommunist, wurde später Generationen von Chinesen als Vorbild vorgehalten. "Von Lei Feng lernen", das versteht auch heute noch jedes Kind.

Dass nun ein Sportler wie Liu Xiang der größte Nationalheld sein durfte, zumindest bis gestern, ist auch ein Beweis für den Wandel Chinas. Immerhin hatte er eine wirkliche Großtat erbracht, als er vor vier Jahren in Athen als erster Asiate in einer traditionell von Europäern und Amerikanern dominierten Disziplin Gold gewann. Junge Chinesen wollen heutzutage Gewinner anhimmeln und keine Märtyrer oder Rotarmisten. Liu Xiang hat Werbeverträge mit Nike, sein Gesicht lacht von vielen Plakaten. Er ist ein durchaus moderner Held.

Projektionsfläche und Motor

Es stimmt, dass Nationalismus im Sport keine chinesische Erfindung ist. Ein Michael Phelps etwa wird in den USA von dem Medien genauso zum "Nationalhelden" stilisiert, allerdings schwingt dort immer noch ein Schuss Ironie mit, wenn dieser Begriff benutzt wird. Und die Regierung hält sich zurück, facht den Kult nicht mit öffentlichen Mitteln zusätzlich an. In China fehlen sowohl diese Ironie, als auch die Mäßigung der Mächtigen. Das ist eine gewaltige Hypothek für einen sensiblen Sportler wie Liu.

Die Art und Weise, wie die Kommunistische Partei Liu Xiang aufs Podest gehoben hat, wie sie ihn politisch geadelt hat und seine Siege zu ihren Siegen umgemünzt hat, geht über das hinaus, was die Massenmedien mit Spitzensportlern in westlichen Ländern veranstalten. In China ist der Nationalismus, für den Sportler wie Liu Xiang als Projektionsfläche und Motor zugleich benutzt werden, inzwischen zur wichtigsten staatstragenden Ideologie geworden.

Chinas Aufholjagd gegenüber anderen Nationen, sein "Gesicht", sowohl in der Volkswirtschaft wie im Sport, sind die wichtigste Legitimation der Führung geworden. Ständig muss sich das Land aus Sicht der Partei international behaupten. Wachstumsrekorde und sportliche Rekorde, das ist alles, was noch zählt. Sonst gähnt eine gewaltige Leere, seit der Kommunismus als Leitstern verglüht ist. Die Partei braucht Helden wie Liu Xiang ganz verzweifelt. Das erklärt den immensen Druck, von dem viele Chinesen nun vermuten, dass er den Sportler Liu Xiang im entscheidenden Moment versagen ließ.

China ist noch nicht selbstbewusst genug

Nicht alle zeigten dafür jedoch Verständnis. "Liu Xiang hat China und die Chinesen gedemütigt", sagte etwa ein 28-jähriger Ingenieur beim Verlassen des Stadions. "Wir wollten, dass Liu das Gesicht der Chinesen wahrt, indem er sein Gold hier in China verteidigt", ergänzte ein 27-jähriger Zeitarbeiter.

Interessanterweise taugte der brave Lei Feng 1963 aus Maos Sicht gerade deshalb zum Helden, weil er bereits tot war. Im Alter von 21 Jahren im Dienst für die Nation angeblich von einem Telefonmasten erschlagen, wurde sein Tagebuch erst posthum veröffentlicht. Keine menschliche Schwäche, kein Straucheln konnte diese Ikone von ihrem Sockel stürzen.

Liu Xiang aber lebt. China ist noch nicht selbstbewusst genug, um seine menschlichen Schwächen sympathisch zu finden. Der Rest der Welt mag denken, dass es schön ist, dass bei dieser chinesischen Leistungsschau endlich mal etwas nicht perfekt gelaufen ist. Dass es Größe zeige, wenn selbst ein Nationalheld fehlbar sein darf. Die Chinesen, das zeigte ihre Reaktion, sind offenbar noch nicht so weit.

© SZ vom 19.08.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Leichtathletik
:Weltrekorde der Männer

Der britische Leichtathletik-Verband will alle Weltrekorde zurücksetzen. Darunter sind auch einige, die erst vor kurzem aufgestellt wurden.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: