Olympische Spiele 2008:Das Kind und ein böser Verdacht

Lesezeit: 3 min

Verräterische Startlisten geben dem IOC Hinweise, dass Turn-Olympiasiegerin He Kexin erst 14 Jahre alt ist.

Thomas Kistner

Der olympische Jahrmarkt ist auch einer für Mensch und Ross, und wo schaut man beim Pferd zuerst hin? Ins Maul, richtig. Die Zähne sagen viel über Alter und Verfassung. Geht es nach Bela Karoly, sollte man das auch im Kunstturnen so halten. Der Szenefuchs, der einst Nadia Comaneci und Mary Lou Retton zu Olympiagold führte, weiß eine Menge über Gebisse. Da war zum Beispiel die Nordkoreanerin Kim Gwang Suk, die bei der WM 1991 ohne Schneidezähne antrat. Ihre Trainer erzählten, das Mädel habe vor Jahren einen Trainingsunfall erlitten. Karoly fand, dass die 1,32 Meter kleine, 31 Kilo leichte Kim niemals 16, nicht mal elf Jahre alt war - und just die Milchzähne verloren hatte. "Schaut die kleinen Chinesinnen an", rät er den Reportern in Peking, "dann seht ihr, dass einige klitzekleine Milchzähne haben."

Angeblich schon 16 Jahre alt: Chinas Turnfloh He Kexin. (Foto: Foto: AP)

Ein schwerwiegender Verdacht, zumal er sich auf He Kexin bezieht, die nationale Hoffnung dieses olympischen Dienstags. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat soeben vertrauliche Unterlagen ausgewertet, die zeigen, dass bei He Kexins Alter offenbar geschummelt wurde. Die kindliche Olympiasiegerin am Stufenbarren, die mit Chinas Team bereits das Mannschaftsgold abgeräumt hat, soll stolze 16 Jahre alt sein, das vom IOC geforderte Mindestalter. IOC-Sprecherin Giselle Davies sagte am Montagabend der SZ: "Uns wurde gesagt, die Altersfragen sind geklärt. Es gibt aber ständig weitere Beiträge, die auf Diskrepanzen hindeuten. Wir haben den Turnweltverband FIG gebeten, mehr herauszufinden. Wir denken, das tut er sofort."

Die FIG war dem Verdacht sogar selbst schon nachgegangen. Prompt hatten die Chinesen eine Kopie von Hes Reisepass präsentiert. Er war taufrisch, ausgestellt im Februar 2008, aber "das Alter war okay", sagte FIG-Generalsekretär Geisbühler der New York Times. "So lange wir keine offizielle Beschwerde haben, können wir nichts tun, wenn uns ein Pass gezeigt wird, der offenbar in Ordnung ist." Das war im Mai. Seit Montag gibt es Anlass für eine Untersuchung dank der Anfrage des IOC. Der Verdacht ist, dass He auf dem Ausweispapier exakt zwei Jahre älter gemacht wurde, um Chinas Sportruhm zu mehren.

Seltsame Stadtmeisterschaften

Das Fälschen von Altersangaben zählt auch in China zu den Geläufigkeitsübungen. Hier gibt es keine Geburtsurkunden, und schon einmal, nach den Sydney-Spielen 2000, flog ein Fall auf. Da gab die zweifache Bronzegewinnerin Yang Yun zu, dass sie bei Olympia mit 14 triumphiert hatte; das gestand sie sogar im Staatsfernsehen CCTV. Ihre Angaben bezeugte auch ein Bericht der Sportverwaltung in der Provinz Hunan. Warum sollte es also im Fall He, die für Peking mit dem Geburtsdatum 1. Januar 1992 ausstaffiert ist, einen vernünftigen Grund geben, frühere behördliche Angaben zu ihrer Person anzuzweifeln?

Laut Website des Nationalen Sportbüros nahmen an den 6. Nationalen City Games, die 2007 in Wuhan stattfanden, wie üblich Mädchen von elf bis 13 Jahren teil. Auf der entsprechenden Liste wird He Kexin mit dem passenden Geburtsdatum 1. Januar 1994 geführt. Dasselbe Datum findet sich auf einer Turnierliste, die das Nationale Sportbüro im Februar 2006 herausgab. Doch Wochen später wurde das Alterslimit für die City Games geändert, nun waren Kinder von 13 bis 15 zugelassen (1.1.1992 bis 31.12.1994). He holte Gold am Stufenbarren. Und Chinas Medien von der Agentur Xinhua bis People's Daily feierten "die 13-Jährige" als den "kommenden Star". Im Internetarchiv lässt sich anhand von Startlisten rekonstruieren, dass He Kexin (wie ihre Gold-Kollegin in Peking, Jiang Yuyuan) heute 14 sein dürfte, keine 16. Dass sich also Schein und Sein decken.

Auf der nächsten Seite: Ein angepasstes Geburtsdatum - und die Angst vor den Preisrichtern.

Olympische Spiele 2008
:Chinas Turn-Kinder

Das Mindestalter für die Teilnahme an den Spielen beträgt 16 Jahre. Doch wie alt sind die chinesischen Star-Turnerinnen He Kexin und Jiang Yuyan wirklich? Es gibt widersprüchliche Altersangaben.

Überdies hatte nach den City Games der Vize-Direktor des Nationalen Sportbüros He Kexin als "möglichen Star" für die Peking-Spiele bezeichnet, für ihn war sie 13. Was aufschlussreich ist, denn Funktionären und Medien war ja schon 2007 klar, dass He im Jahr darauf 14 sein und in Peking nicht teilnehmen dürfte. Warum wurde das 2007 nicht debattiert, sondern die 13-Jährige in (berechtigter) Vorfreude als Olympiastar gehandelt?

Olympische Spiele 2008
:Verbogene Körper

Egal ob am Boden, Barren, Schwebebalken oder Reck: Die Turner bei Olympia scheinen Knochen aus Gummi zu haben - und keine Angst vor gewagten Sprüngen.

Die Antwort: He Kexins Geburtsdatum wurde plötzlich auf den 1. Januar 1992 angehoben, dazu passend widmete man die City Games, die stets für elf bis 13-Jährige ausgeschrieben waren, für 13- bis 15-Jährige um - was sich ja in keiner Weise mit dem Ziel dieser Stadtspiele deckt: Hier sollen Gymnastinnen für die jeweils fünf Jahre später stattfindenden Spiele selektiert werden. Für He, vielleicht auch vier weitere ihrer Gold-Kolleginnen von Peking, bei denen die Faktenlage nur nicht so klar ist, wurde das komplette Reglement umgeworfen.

Furcht vor den Preisrichtern

Turnkinder sind begehrte Gestaltungsobjekte für ehrgeizige Trainer. Sie sind leichter, geschmeidiger und furchtloser bei gefährlichen Übungen. "Sie sorgen sich weniger", sagt eine hohe FIG-Offizielle. Sorge macht sich dafür im Weltverband breit.

Seit Monaten zögern einzelne Verbände, ihren Verdacht gegen die Turnmacht China in eine Untersuchung zu kleiden, aus Furcht, in Peking von den Punktrichtern abgestraft zu werden. So läuft das im Kindersportbetrieb. IOC-Sprecherin Davies glaubt, die FIG werde "nicht so schnell" arbeiten. Nach dem Wettkampf lässt sich leichter ermitteln.

Im Fall der Nordkoreanerin Kim wurde deren Verband im Jahr darauf von der WM ausgesperrt. Im Olymp droht Medaillenentzug. "Altersfälschung", sagt IOC-Chefmediziner Ljungqist, "ist für uns ein Riesenproblem."

© SZ vom 19.08.2008/mb - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: