Olympia:Der Sumpf und seine Untiefen

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Was bedeutet Russlands Affäre für die Spiele in Rio? Kann Kronzeugin Stepanowa starten? Wie verhält sich der organisierte Sport? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Von Johannes Aumüller und Thomas Kistner

Recherchen und Reporte zeigen, dass es in Russland ein umfangreiches Dopingsystem gab, in das die Politik involviert war. Wie viele Russen gehen bei den Spielen in Rio (5. - 21. August) an den Start?

Das ist unklar. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) unter Regie von Thomas Bach verzichtete trotz des Dopingsumpfs darauf, die komplette Mannschaft auszuschließen. Russlands Zuständige nominieren ihren endgültigen Kader erst am 21./22. Juli. Zuletzt gab es in Peking und London 468 bzw. 436 Starter. Diesmal dürften es ein paar weniger sein.

Wer könnte fehlen?

Aufgrund nachgewiesener Dopingvergehen sind aus den olympischen Sportarten derzeit knapp 100 Russinnen und Russen gesperrt. Der Leichtathletik-Weltverband beschloss den quasi kollektiven Ausschluss der Russen. Die Gewichtheber drohen mit einer ähnlichen Sanktion. Die tritt aber nur in Kraft, falls das IOC rechtzeitig die Disziplinarverfahren zu Nachtests aus 2008 und 2012 beendet. Athleten aller anderen Sportarten unterliegen der Überprüfung durch ihre internationalen Fachverbände. Eingedenk der russischen Einflüsse in vielen Föderationen und der sportpolitischen Realität ist kaum anzunehmen, dass viele Ausschlüsse erfolgen.

Wie steht es um den Kollektiv-Ausschluss der russischen Leichtathleten?

Die Sanktion ist aktuelle Beschlusslage des Leichtathletik-Weltverbands IAAF. Es gibt aber zwei dicke Fragezeichen. Zum einen wendet sich Russland an den obersten Sportgerichtshof (Cas). IOC-Chef Bach befeuert das, er erklärte, das sei Russlands gutes Recht. Urteile des Lausanner Gerichts gelten oft als sportpolitisch motiviert; auch deutsche Gerichte warfen schon Fragen zur vollständigen Unabhängigkeit auf. Zweitens lässt die IAAF eine Ausnahme zu: Russische Athleten, die sich zuletzt außerhalb des nationalen Testsystems bewegten und weitere Kriterien erfüllen, dürfen starten. Am Donnerstag veröffentlichte die IAAF ihre Vorgaben: Einige sind schwammig formuliert. So ist kein konkreter Zeitraum genannt, über den sich ein Athlet außerhalb des Testsystems bewegt haben müsste. Die Rede ist nur von einem "ausreichend langen Zeitraum". Das schafft viel Spielraum. Und eine Angriffsmöglichkeit vor dem Cas.

Unter welcher Fahne starten die zugelassenen russischen Leichtathleten in Rio?

Definitiv unter russischer. Die IAAF verfügte zunächst einen Start unter neutraler Flagge. Das IOC korrigierte das - über den Dreh, dass zwar Russlands Leichtathletik-Verband, aber nicht Russlands nationales Olympisches Komitee (ROK) gesperrt sei. Für Russlands Führung um Staatschef Wladimir Putin dürfte das ein zentraler Punkt sein: Russische Athleten, die unter neutraler Flagge Medaillen abräumen, wirken nach innen kontraproduktiv.

Delegation im Blickfeld: 2012 in London führte Maria Scharapowa (links) als Fahnenträgerin das russische Team bei Olympia an. 2016 gilt die Tennisspielerin als gesperrt. (Foto: Kappeler/dpa)

Was bedeuten die Entwicklungen für den erhofften Olympia-Start von Kronzeugin Julia Stepanowa, die in der ARD das Dopingsystem aufzudecken begann?

Nichts Gutes. Das ROK wird sie nicht nominieren. Das IOC könnte es tun, will das aber nicht zusagen. Es sagt, dass es erst nach einem entsprechenden Antrag der IAAF eine "sorgfältige Prüfung" gebe.

Wäre ein Kollektiv-Ausschluss der Athleten gerechtfertigt?

Ja. Das sagte sogar der Cas jüngst in einem ähnlich gelagerten Fall. Der Weltverband der Gewichtheber disqualifizierte Bulgariens Verband, der Sportgerichtshof bestätigte das. Auch verweisen viele Leichtathleten aus anderen Ländern darauf, wie ungerecht es über all die Jahre war bzw. die Vorstellung fortan sei, gegen Athleten eines offenkundig chronisch dopingverseuchten Landes antreten zu müssen.

Überdies ist nicht gerecht, dass nur Athleten die Opfer sind - und die beteiligten Funktionäre davonkommen. Drei Beispiele: Das Haus von Russlands Sportminister Witalij Mutko war Erkenntnissen des jüngsten IAAF-Reports zufolge an der Dopingvertuschung beteiligt. Er ist noch in all seinen Sportämtern, sogar im Vorstand des Fußball-Weltverbands. IAAF-Boss Sebastian Coe erhielt vor den ersten Veröffentlichungen der ARD eine Mail mit konkreten Hinweisen auf russisches Doping. Er sagt, er habe den Anhang nicht gelesen und nur an zuständige Stellen weitergeleitet. Auch Craig Reedie, Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, ist noch im Amt, obwohl seine Institution versagt hat.

Welche Rolle spielt die Wada?

Zuletzt gab es, in ihrem Auftrag, starke Reporte durch unabhängige Experten wie den Münchner Kripo-Mann Günter Younger oder den kanadischen Anwalt Richard McLaren. Trotzdem neigte der Kopf der Ermittlergruppe, IOC-Mann Dick Pound, dazu, Spitzenfunktionäre zu schützen - insbesondere Sebastian Coe. Noch gravierender ist die Untätigkeit bei Hinweisen von Kronzeugen. Bereits 2012 gab es von Russlands Diskuswerferin Darja Pischtschalnikowa Informationen zum Dopingsystem in der Heimat: Die Wada leitete sie einfach weiter - nach Russland! Auch Stepanowa wandte sich zunächst an die Wada. Ohne dass diese reagierte.

Warum verhält sich die Wada so - ist sie nicht die globale unabhängige Instanz in der Doping-Bekämpfung?

Sie ist nicht unabhängig. An der Spitze steht IOC-Vize Reedie, olympischer Fahrensmann wie Pound oder Bach. Aus dem Wada-Wissenschaftsapparat bis zu den Laborexperten ist informell viel Unbehagen zu hören, dass die Wada sportpolitisch gelenkt sei. "Dopingbekämpfung" ist aber auch ein großes wirtschaftliches Geschäft, verbunden mit Renommee. Wie abhängig, teils gefügig die wissenschaftliche Welt ist, lässt sich auch am Umgang mit brisanten Studien sehen. Eine solche, initiiert von Europas Fußball-Union Uefa, dokumentiert etwa in 7,7 Prozent aller Proben bei Profis auf höchstem europäischen Niveau (Zeitraum 2008/13) auffällige Testosteron-Werte. Eine Studie unter Startberechtigten zeigte eine Doper-Quote von zirka 30 Prozent für die Leichtathletik-WM 2011 in Daegu bzw. 45 Prozent für den Panarabischen Spiele 2011 in Doha. Der organisierte Sport blockiert solche Resultate gerne, sie fallen unter den Tisch oder werden so diskret in die Öffentlichkeit gespielt, dass es niemand mitkriegt. Auch beklagen Wissenschaftler, dass ihnen begleitende Feldstudien untersagt werden. Zumal, wenn sie auf alarmierende Erkenntnisse zusteuern. Dass die Wada nicht unabhängig ist, sprach sich gar zu IOC-Chef Bach herum. Er betonte kürzlich noch einmal, das Anti-Doping-System müsse unabhängiger werden. Vom Sport.

Welche Rolle spielt das IOC?

Die entscheidende. Wenn es die Situation erfordert, kann sich das IOC als Mäuschen gerieren, das sich hinter Regeln versteckt und an den Umständen nichts ändern kann. Realistisch aber gibt es bei den Spielen keine wichtige sportpolitische Entscheidung gegen den Willen des IOC. Schließlich ist es Besitzer der Spiele.

Welche Haltung hat das IOC?

Als nachhaltiger Dopingbekämpfer trat es nie in Erscheinung. Es rühmt rituell ein Testsystem, das viele Lücken hat. So gibt es eine absurde Differenz zwischen offiziellen Sünderquoten (weit unter einem Prozent) und Studien wie zum Fußball, zu Daegu oder Doha. Bach stemmte sich als Chef des deutschen Sports lange gegen ein Anti-Doping-Gesetz. In Angriff genommen wurde es kurz nach Bachs Aufstieg zum IOC-Boss 2013.

Durch die aktuellen Entscheidungen zieht sich ein roter Faden: Das IOC kommt Moskaus Interessen entgegen. Bei der Ablehnung eines Komplett-Ausschlusses des russischen Teams. In der Frage, unter welcher Flagge Russlands Leichtathleten starten. Oder im Fall Julia Stepanowa, für die das IOC noch keine klare Startzusage gibt. Nicht unwahrscheinlich ist folgendes Szenario: Russland bringt das Ausschlussverdikt des Sports über den Cas zu Fall; schon jetzt deuten sich Schwachstellen an. Und Stepanowas Start wird an Regeln scheitern, die sich finden lassen. Ihr Start würde die Spiele für die Öffentlichkeit ohnehin zu "Stepanowa-Spielen" machen - solche Themen schätzt das IOC gar nicht.

Warum verficht der IOC-Präsident so oft die Position von Russland bzw. Putin, der einst Bachs Wahl sehr begrüßte und im Gegenzug in Sotschi viel Lob erhielt?

Das dürfte eine Kernfrage sein. Und die Antwort Licht auf viele Probleme werfen.

© SZ vom 25.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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