Österreich:Großglocknergroße Frustration

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Während Außenseiter Island das Achtelfinale erreicht, quälen sich die Österreicher mit der Frage, was alles schiefgelaufen ist.

Von Claudio Catuogno, Saint-Denis

David Alaba zog ein Rollköfferchen hinter sich her, sein rotes Poloshirt sah frisch gebügelt aus, er hatte es bis oben hin zugeknöpft. Die vergoldeten Locken thronten sehr korrekt auf seinem Haupt. Sein Blick ging irgendwo in die Ferne.

Und dort sah Alaba: Männer mit Wikingerbärten und rustikal tätowierten Armen; es hätte auch eine Delegation wettergegerbter Hochseefischer sein können, die dort in den Katakomben des Stade de France herumstand, es waren aber die isländischen Fußballer. Und Alaba hörte: ein Kreischen, Röcheln und Japsen. Während die Isländer über ihren Einzug ins Achtelfinale sprachen, verbreitete sich das Filmchen des isländischen TV-Kommentators, der bei Arnor Traustasons finalem 2:1 Fassung und Stimme verlor, von Handy zu Handy, die Journalisten schauten und hörten es sich wieder und wieder an. Der orgiastische Clip ist jetzt einer der Soundtracks dieser EM.

Wenn ein kleines Land im Fußball über sich hinauswächst, drehen zu Hause alle durch, das war die Heldengeschichte des Abends. Aber David Alaba stand nur brav angezogen und tadellos frisiert daneben.

Österreich ist auch ein kleines Land. David Alaba stammt aus Wien, er hat das wiederkehrende Scheitern des österreichischen Fußballs in den letzten Jahren aus nächster Nähe beobachten können. Noch nie, außer als Co-Gastgeber 2008, war Österreich für eine EM qualifiziert - bis 2016. Noch nie hatte ein Österreicher ein EM-Tor aus dem Spiel heraus erzielt - bis nun Sebastian Schöpf zum zwischenzeitlichen 1:1 traf. Es sind diese Außenseiter- geschichten, das Bewusstsein für die Größe des Augenblicks, die eine Mannschaft über sich hinauswachsen lassen können.

Aber die Österreicher sind nicht über sich hinausgewachsen, im Gegenteil. Manchmal hatten sie Pech, und dann kam auch noch hinzu, dass ein selbsternannter Geheimfavorit eben schneller an Grenzen stößt als ein Außenseiter. Andere Neulinge, etwa die Isländer, hatten sich vorher kleingemacht und waren dann in Frankreich gewachsen. Die Österreicher hatten sich vorher größer und größer gemacht, so groß, dass sie nun nicht mehr das Gefühl hatten, nur gewinnen zu können. Sie hatten immer bloß Angst, zu verlieren.

"Wenn bei uns nur 62 Prozent der Bälle ankommen, und normal haben wir einen Wert von 85 Prozent, dann wird es eben schwer", sagte der Nationaltrainer Marcel Koller nach dem Spiel. An der Qualität, sollte das heißen, sind wir nicht gescheitert. Sondern an der Nervosität.

David Alaba versuchte jetzt, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. "Wir werden sehr viel mitnehmen", sagte er. Was denn so? "Erfahrungen." Koller hatte das auf der Pressekonferenz fast genau so gesagt: "Es war extrem wichtig für uns, dass wir diese Erfahrungen sammeln durften." Man musste vermuten, dass es sich da um eine Sprachregelung handelte. Alaba hatte sich jedenfalls ein Sprachbild zurechtgelegt, das er jetzt sehr eifrig bemühte: "Unser Buch ist noch nicht zu Ende geschrieben", sagte er, diese EM sei "in unserem Buch, das noch nicht zu Ende geschrieben ist, sicher kein schönes Kapitel, aber jetzt werden wir das nächste Kapitel aufschlagen und unseren Weg weitergehen."

Und er persönlich? Alaba Superstar, der es in seiner Heimat sogar zum Sportler des Jahres geschafft hat vor all den Skirennfahrern, was in diesem Land der Berge so außergewöhnlich ist, als würde man auf der Streif Eckfahnen aufstellen anstelle von Abfahrtstoren. "Auch in meinem persönlichen Buch, das noch nicht zu Ende geschrieben ist, ist das jetzt natürlich ein Kapitel . . ." Man musste sich vorkommen wie auf einem Literaturfestival, so oft wie David Alaba jetzt von diesem Buch sprach.

Die Isländer sprachen von Freude, Freundschaft und Stolz. Kari Arnason, Abwehrspieler, sagte: "Es ist fantastisch, wenn man so etwas mit seinen besten Freunden durchlebt", er meinte damit seine Teamkollegen, "und mit den Fans. 10 000 waren aus Island im Stadion, das ist unglaublich. Ich kenne wahrscheinlich die Hälfte der Leute." Mehr als 330 000 Isländer gibt es auf diesem Planeten nicht.

Die Isländer spielen nun am Montag in Nizza ihr Achtelfinale gegen England. Die Österreicher fragen sich, was schiefgelaufen ist. Sie tun das auf eine reichlich verdruckste Art, auch der seriöse Trainer Koller aus der Schweiz, der sich in den vergangenen viereinhalb Jahren mindestens großglocknergroße Verdienste erworben hat um die Weiterentwicklung des österreichischen Fußballs. Es ist noch nicht lange her, dass Koller vom Public-Relations-Verband Austria zum "Kommunikator des Jahres" ernannt wurde. Aber jetzt windet er sich und sucht nach Worten. Auf die Frage, ob er auch ein persönliches Scheitern erkenne, antwortet er: "Ich denke nicht, dass es ein persönliches Scheitern ist, sondern eine Erfahrung, die ich gemeinsam mit der Mannschaft gemacht habe . . ." Wenigstens erzählte er nichts vom Buch.

Tatsächlich war es vor allem Koller gewesen, der die Erwartungen, die in Österreich halt schneller mal durch die Decke gehen als anderswo, immer zu dämpfen versucht hatte. Aber irgendwo zwischen "Geheimfavorit" und Gruppenletzter, dort lag sein Gestaltungsraum als Trainer - und es ist nun schon die Frage, warum dort so wenig geklappt hat. "Ist der Teamchef schuld?", fragte am Donnerstag die Kronenzeitung, immerhin war da noch ein Fragezeichen am Ende des Satzes.

Und diese Frage führt wieder direkt zu David Alaba, der beim FC Bayern ein Weltklasse-Linksverteidiger ist und in der Nationalelf normalerweise ein defensiver Mittelfeldspieler, der aber dieses Mal für eine andere Rolle vorgesehen war: für die des Heilsbringers. Beim 0:0 gegen Portugal musste er auf der Zehner-Position spielen, was nicht funktionierte. Beim 1:2 gegen Island rückte er aber nicht etwa zurück nach hinten - sondern noch weiter nach vorne. Er war jetzt eine verkappte Nummer neun. Die Idee war, den Besten dorthin zu stellen, wo die Not am größten ist. Aber die Idee ging ziemlich schief.

"Hinterher ist man klüger", sagte Marcel Koller am Donnerstag im Quartier in Mallemort in Südfrankreich, dann packte er seinen Koffer. Aber als Nationaltrainer wird er wohl weitermachen. Trauriger als in Frankreich kann es eh nicht mehr werden.

© SZ vom 24.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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