Leichtathletik:Wende im Rekordtempo

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(Foto: SZ Grafik, Michael Mainka)

Einst der strengste Hüter des Amateurgedankens, heute ein besonders raffgieriges Mitglied des olympischen Zirkels: die IAAF. Nach Skandalen um Korruption und Dopingvertuschung steckt sie knöcheltief im Dreck.

Von Michael Gernandt, München

Zum Beispiel Sigfrid Edström, Schwede, Großindustrieller und, wie man heute weiß, ein Mann mit hellseherischen Fähigkeiten. Schon 1928 beim Kongress des von ihm seit 16 Jahren geführten Weltverbands der Leichtathleten (IAAF) ahnte er, wohin seine Organisation abgleiten wird, sollte sie der Macht des Geldes erliegen: "Immer tiefer in einen Morast, aus dem wir uns selbst nicht mehr befreien können." Genau so ist es gekommen.

Die in diesem Jahr aufgedeckten Skandale um Korruption und Dopingvertuschung belegen: Die IAAF steckt tatsächlich knöcheltief im Dreck. Der Bestechungsfall Lamine Diack, im August 2015 zurückgetretener vierter Nachfolger von Edström, und von der Untersuchungskommission der Welt-Anti-Doping-Agentur für Januar angekündigte weitere Enthüllungen beleuchten eine neue "Qualität" des Betrugs im Weltsport. Die Vorgänge lenken den Blick auch auf den im Verlauf der Jahrzehnte bizarren Umgang der IAAF mit dem Geld, der Wurzel allen Übels.

Die Leichtathletik, bei Olympischen Spielen stets ein Schwergewicht, hatte sich zunächst als Hüterin über Ethik und Moral in der selbstlosen Welt des reinen Amateurs geriert. Wo die IAAF Geld im Athletenspiel vermutete, fuhren der wohlhabende Edström und sein aristokratischer Nachfolger, der englische Großgrundbesitzer Lord Burghley, dazwischen wie der Fuchs im Hühnerstall. So scheute sich der Verband nicht, seine drei größten Stars des frühen 20. Jahrhunderts wegen Bruchs der Amateurregel beim IOC zu verpfeifen.

Der amerikanische Olympiasieger von 1912 im Fünf- und Zehnkampf, der Indianer Jim Thorpe, wurde lebenslang ausgeschlossen und ihm das Gold weggenommen. Der Allroundsportler hatte nebenher für 25 Dollar pro Woche den Baseball traktiert. Lebenslang auch für Wunderläufer Paavo Nurmi, 1932 denunziert von deutschen Funktionären der Leichtathletik um ihren Anführer Karl Halt. Der Vorwurf an den Finnen: Preisgeldforderungen in Königsberg, Danzig und Breslau.

1936 vertrieb der Chef der US-Leicht- athletik, der Rassist Avery Brundage, den Helden von Berlin, Jesse Owens, aus dem Amateurlager. Owens sollte nach den Nazi-Spielen noch Länderkämpfe für die USA bestreiten, weigerte sich jedoch. Brundage vermutete: Der läuft andernorts für Bares. Der Weltverband sprach von "Verbrechen". Am Amateurismus.

In den schwierigen Nachkriegsjahren lag bei der IAAF die Betonung weiterhin auf dem ersten "A" im Verbandskürzel, "A" wie Amateur (von 2001 an: International Association of Athletics Federations). Begehrlichkeiten wurden erst nach 1960 geweckt. Als das Wettrüsten im Kalten Krieg auch den Sport erfasste, erlag der West-Sport den Verlockungen des Dollars: Reflex auf die Vorteile der sogenannten Staatsamateure des Ostens.

Es waren zuerst die Amerikaner, die versuchten, sich der Fessel des Amateurparagrafen zu entledigen. Die nach Olympia 1972 gegründete, von der IAAF aber nicht anerkannte International Track Association (ITA) entlohnte ihre Athleten (u. a. Ryun, Seagren, Evans, Keino) nun offiziell, bis ihr 1976 das Geld ausging. Spätestens Ende der Siebziger kassierten auch Stars der IAAF ganz ungeniert fünfstellige Summen - unter dem Tisch. Und die einst so prüde IAAF sah einfach weg. Es war die hohe Zeit der Heuchelei.

Der Tugendwächter Burghley hatte sich aus der IAAF zurückgezogen und die Führung Adriaan Paulen übergeben. Der Niederländer entpuppte sich als schwungvoll pragmatischer Befürworter des Umschwungs, an dessen Ende, 1981, eine Revolution im Weltsport stand: Das Internationale Olympische Komitee (IOC) beerdigte den bereits mumifizierten Amateur. Fortan hieß es: Dollar marsch für den Olympia-Profi!

1912 und in den folgenden Jahren noch Missionar des unverbrüchlichen Glaubens an den asketischen Amateur, gab die IAAF ihre Gesinnung von 1982/83 an früher als die anderen Weltverbände vor Eintritt in die Geldtempel an der Garderobe ab: Die totale Kehrtwende, sie konnte den Leichtathleten gar nicht schnell genug gehen.

Wie an die Futtertröge heranzukommen war, heckte Paulens Thronfolger Primo Nebiolo ("Primo Napoleone") aus, ein Turiner Rechtsanwalt mit zweifel- haftem Ruf. Er schöpfte den Rahm von den Erträgen des IOC ab und emanzipierte gleichzeitig mit der Einführung von Weltmeisterschaften die IAAF vom Geld des Olympischen-Ringe-Zirkels.

Die Wundertüte, in die Nebiolo zunächst griff, lieferten die Spiele 1984 in Los Angeles. Sie ließen die IOC-Erlöse für TV-Rechte (von 88 Millionen Dollar 1980 auf 290) und von Sponsoren explodieren, Letztere hatten nun den Sport als ideale Werbeplattform erkannt. Das frische Geld leitete Nebiolo, seit 1983 auch Chef des Verbunds olympischer Sommersportverbände (Asoif), größtenteils auf die Konten der Asoif-Mitglieder um. Filetstück für die IAAF ist ein viel beneidetes Alleinstellungsmerkmal: Pro Vierjahreszyklus sackt sie mehr IOC-Millionen ein als sieben nachrangige Verbände, zuletzt für die Periode von 2013 bis 2016 waren das 45,2 Millionen Dollar. Turnen, Schwimmen, Basketball, Rad, Fuß- und Volleyball, Tennis bekommen nur je 25 (von 2016 an muss die IAAF allerdings mit Turnen und Schwimmen teilen). 1985 bis 1995 jedenfalls badete die IAAF wie Dagobert Duck im Geld.

Diese Phase üppiger Kassenstände veränderte das Verhältnis der IAAF zum Geld radikal. Die Verführung durch den Dollar war nun nicht mehr aufzuhalten, die moralisch-ethische Hemmschwelle verlor an Höhe und sank weiter, als nach dem frühen Tod von Nebiolo, der die Finanzquellen zum Sprudeln gebracht hatte, 1999 der Senegalese Diack folgte. Der kannte sich mit Bestechung bereits aus: Schon 1993 hatte er sich vom damaligen IAAF-Vermarkter ISL mit 59 000 Franken schmieren lassen. Es konnte nicht überraschen, dass unter ihm die Gier nach Barem und Luxus zunahm, finanzpolitische Intransparenz, Hinterzimmerpolitik und Korruption nicht minder.

Stets suchte auch der aktuelle IAAF-Chef Lord Sebastian, genannt "Seb", Coe die Nähe zu klingender Münze. Noch Bürgerlicher und noch Amateur, aber schon 800-Meter-Weltrekordler, ließ er einst als Erster einen Manager die Gagen aushandeln. Für seine Wahlkampagne zum höchsten IAAF-Amt kassierte er bei Staat und einem russischen Oligarchen. Einen Beratervertrag (100 000 Pfund pro Jahr) mit dem einflussreichen Sportartikelriesen Nike kündigte der Diack-Nachfolger schweren Herzens erst auf öffentlichen Druck.

Und der IAAF-Vorstand? Hält für sein Votum pro WM-Ausrichtung gern die Hand auf, Bewerber dürfen Entscheidungsanreize offerieren, pseudolegale Incentives, Katar legte für die WM 2019 schnell noch 37 000 Dollar auf den Tisch. Zum Finale furioso der Diackschen Dienstzeit vergab man die WM 2021 handstreichartig an die Kleinstadt Eugene (US-Staat Oregon). Dort um die Ecke, in Beaverton, hat Coe-Partner Nike seinen Stammsitz. Honni soit qui mal y pense - beschämt sei, wer schlecht darüber denkt.

© SZ vom 30.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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