Leichtathletik:Sprung in die Freiheit

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Er will der Erste sein, der neun Meter weit springt - nur über seine Drogen-Historie redet Luvo Manyonga nicht mehr so gerne. Dabei liegt darin vielleicht auch ein Schlüssel zu seinem Erfolg.

Von Johannes Knuth

Mario Smith wurde an einem Montagmorgen beerdigt, einem kühlen Augusttag in Stellenbosch. Smith, ein bekannter Trainer in Südafrika, war einen Monat zuvor bei einem Autounfall tödlich verletzt worden. Er war auf dem Weg zu Luvo Manyonga, einem der größten Weitsprung-Begabungen des Landes. Sie hatten sich einst überworfen, Manyonga hatte sich im Gestrüpp der Drogensucht verheddert, immer wieder. Erst während der letzten Monate hatten sie sich wieder angenähert. Jetzt war Smith tot.

An diesem Montagmorgen, an dem sein Trainer beerdigt wurde, schlüpfte Manyonga in enge rote Jeans, schwarze Slipper. Er verließ das kleine Haus seiner Familie in Mbekweni, einem Viertel getränkt in Armut, um den Zug ins 40 Kilometer entfernte Stellenbosch zu erwischen. Er rannte in ein paar Bekannte, sie redeten, rauchten eine Pfeife mit Crystal Meth, oder Tik, wie sie das Gift in den Townships nennen. Manyonga, betäubt und voller Gleichmut, verpasste den Zug. Und die Trauerfeier.

Falsche Freunde umgarnten ihn, bis das Geld verraucht war - im wahrsten Sinn des Wortes

Heute, knapp drei Jahre später hat Manyonga, 26, das alles hinter sich gelassen: Mbekweni, die Drogen, die Hoffnungslosigkeit. Er hat vor einem Jahr bei den Olympischen Spielen mit 8,37 Metern im Weitsprung eine Silbermedaille gewonnen, die wohl eine goldene gewesen wäre, hätte er nicht erst Monate zuvor wieder ins Training gefunden, nach vierjähriger Pause. Im April verbesserte er den Landesrekord auf 8,65 Meter, weiter ist in den vergangenen acht Jahren niemand gesprungen, weltweit. So ging es weiter, 8,61 Meter in Shanghai, 8,62 am Wochenende in Hengelo. An diesem Sonntag wird Manyonga in der Diamond League in Stockholm springen, er ist mittlerweile eine der Hauptattraktionen. Aber für ihn sind das nur Zwischenstationen auf einer Reise, die ihn irgendwann am Weltrekord des Amerikaners Mike Powell (8,95) vorbeitragen soll. "Ich will der Erste sein, der neun Meter springt", hat Manyonga neulich gesagt, "und ich werde es schaffen." Wer den Drogen davonspringt, lässt sich doch von einem Weltrekord nicht einschüchtern.

Nur über diese Vergangenheit redet er nicht mehr so gerne. Man wolle "das Narrativ ändern", hat Lee-Roy Newton, Manyongas Manager, neulich dem englischen Guardian gesagt. Nicht, dass man Sponsoren verschreckt. John McGrath, ein Fitnesstrainer, sieht das anders; er war dabei, als Manyonga aus den Wirren der Sucht in die Weltelite fand. "Seine Geschichte reicht über den Sport hinaus", sagt McGrath, "es ist eine Geschichte der Hoffnung." Und dieses Gut ist knapp in Manyongas Heimat mit all den Townships, unzähligen Festungen der Hoffnungslosigkeit.

Wenn man McGrath anruft, per Videotelefonie, führt er erst einmal durch sein Fitnessstudio in Paarl. Sie haben hier oft trainiert, es liegt unweit von Manyongas altem Viertel. Auf dem Betonboden kleben noch die Markierungen der Vormieter, die in der Halle Wein lagerten. Sprossenwände lehnen an kalten Wänden, nirgends ein Spiegel, in dem man seinen Bizeps bewundern könnte. An manchen Tagen trägt der Wind eisige Kälte ins Studio, manchmal wird es 40 Grad heiß. "Es ist ungemütlich", sagt McGrath, "das erdet."

McGrath ist Ire, zwei Meter groß, 120 Kilo schwer. Er hat mal für sein Land gerudert, besitzt fünf schwarze Gürtel in diversen Kampfsportarten und hat einst bei den Strongman-Wettkämpfen auf Coney Island, New York mitgemacht, wo er Telefonbücher in zwei Hälften riss. 2010 folgte er seiner Freundin nach Südafrika. Er blieb. Er hörte vor vier Jahren zum ersten Mal von Manyonga, 2013 bei den World Games, als McGrath Südafrikas Auswahl im Tauziehen betreute, was sonst. Sie erzählten ihm von Manyongas Talent, wie er 2010 Jugendweltmeister wurde, knapp 6000 Euro gewann, wie echte und falsche Freunde ihn umgarnten, bis das Geld verraucht war. Manyonga saß eine 18-monatige Dopingsperre ab; wer Meth, oder Methamphetamin, in kleineren Dosen nimmt, kann sich im Training länger quälen. Die Funktionäre sagten McGrath, dass er Manyonga nicht betreuen dürfe; er besaß ja keine Trainerlizenz. Na und? Für einen Iren, erinnert er sich, sei das wie eine Aufforderung, das Gegenteil zu tun. Er fuhr ins Township. "Dieser Typ wird dich brechen", warten sie ihn noch. Aber wenn Manyonga Hilfe brauchte, dann jetzt, dachte McGrath, da sie sich alle abgewendet hatten: Freunde, Sponsoren, Trainer.

Als McGrath ihn dann fand, vor vier Jahren, kannte Manyonga sich mit zwei Dingen aus. Er wusste, wie man eine Tik-Pfeife rauchte. Und er erzählte begeistert davon, wie es sich anfühle, zu springen. "Wie im Himmel", sagte er. Manyonga schien ja speziell dafür gebaut zu sein: mit langen, feingliedrigen Beinen, dünnen Hüften, seiner athletischen Gabe und einer Technik, die er schon immer mit sich geführt zu haben schien.

McGrath holte Manyonga fortan aus dem Township ab, Tag für Tag. Sie frühstückten, trainierten im Studio, mal mit Hanteln, mal ohne. "Luvo wirkt relaxt, aber er ist sehr wetteifernd, auf spielerische Weise", sagt McGrath. Er fuhr ihn wieder nach Hause, sprach mit der Mutter, er wollte alles wissen. McGrath ist groß wie ein Baum, er hat aber auch eine weiche Stimme, nimmt Leute schnell für sich ein. "Es ist eine mentale Sache", erinnert er sich, "es ging darum, alles so gewöhnlich wie möglich zu halten", in einem Umfeld, in dem kaum etwas gewöhnlich ist.

Rückschläge, immer wieder. Manyonga verpasste 2014 die Commonwealth-Spiele; Smith, sein Trainer, hatte ein Formular angeblich nicht übermittelt. Smith vermutete, dass der Verband Manyonga nicht dabeihaben wollte, wegen der Drogen. Kurz darauf der Unfall. Manyonga verschwand jetzt oft tagelang im Township, er verpasste die Beerdigung. McGrath klammerte sich an seine Zuversicht. Er kannte die Gefühle, durch die Manyonga wanderte, sie hatten McGrath in Irland oft gehänselt, Zigaretten auf seinem Hals ausgedrückt. "Ich habe Luvo gesagt: Du kannst kein Doktor werden, aber der beste Weitspringer der Welt. Oder ein Abhängiger bleiben. Wenn du nur an dem Problem festhältst, gibst du dem Problem noch mehr Kraft." Letztlich, sagt McGrath, habe er Manyonga nicht verändert, sondern ein Biotop geschaffen, in dem der Athlet beschloss, sein Leben auf eine andere Bahn zu führen.

Als dann Luke Alfred, ein Reporter der lokalen Zeitung, Manyongas Geschichte aufschrieb, bewegte sich der Verband, auf Drängen der Regierung. Manyonga zog nach Pretoria, ins Hochleistungszentrum. "Da", sagt McGrath, "hat er wirklich seine Freiheit gewonnen."

Heute ist Manyonga an einem glücklicheren Ort, ohne McGrath. Er klingt ein wenig verletzt, aber er versteht es. "Ich werde für den Rest meines Lebens ein ehemaliger Süchtiger sein", sagt Manyonga, deswegen halte er sich fern von den düsteren Erinnerungen. McGrath betreut derweil den nächsten Athleten, Junior Mphefu, 18, Dreispringer. Er stammt aus demselben Township wie Manyonga. Zwei Athleten aus Mbekweni bei Olympia 2020, das wäre ein Zeichen am Kap, an dem 250 000 Menschen vom Meth gefangen sein sollen, ein Drittel davon Minderjährige. "Südafrika braucht diese Geschichten der Hoffnung", sagt McGrath, gerade von dunkelhäutigen Athleten: "Die Wunden der Rassentrennung sind noch immer da, das Land muss noch immer heilen." Auch wenn die Leistungen in der von Doping- und Glaubwürdigkeitskrisen zerfurchte Leichtathletik mittlerweile immer argwöhnischer beleuchtet werden, aber das ist eine andere Geschichte. McGrath wird Manyongas Geschichte jedenfalls weitertragen - mit allen dunklen Seiten, ohne die es die hellen nicht geben kann.

© SZ vom 17.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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