Leichtathletik:"Junge, ich will nur das Beste"

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Reizfigur: Alwin Wagner war in den 80er Jahren fünfmal deutscher Diskusmeister - und einer der ersten Kronzeugen des westdeutschen Sports. (Foto: Baumann/Imago)

Diskuswerfer Alwin Wagner sprach offen über Doping im Westen, als fast alle anderen noch die Betrüger deckten. Die jüngsten Berichte und Geständnisse verschaffen ihm auch Genugtuung.

Von Johannes Knuth, München

Herbst 1977, ein Trip nach Freiburg, Alwin Wagner erinnert sich noch gut. Vor allem an die medizinische Versorgung. Er hatte sein bislang bestes Jahr als Diskuswerfer hinter sich, und die besten Athleten der Bundesrepublik fuhren nun mal in die "Sporttraumatologische Spezialambulanz" nach Freiburg, zu Armin Klümper. Der injizierte ihm eine Spritze "inne Arschbacke", erinnert sich Wagner, und als er fragte, was in der Spritze stecke, sagte Klümper: "Junge, du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich will nur das Beste." Später drückte Klümper ihm "viele bunte Tabletten" in die Hand, Vitamine, dazu Dianabol, Fortabol, Megagrisevit.

Anabolika, gedacht für Schwerkranke, im Sport schon damals verboten.

Alwin Wagner aus Melsungen hat diese Geschichte schon oft erzählt, und wenn der 66-Jährige heute wieder über damals berichtet, liegt auch Genugtuung in seinem zupackenden nordhessischen Singsang. Weil er schon Anfang der Achtzigerjahre öffentlich anprangerte, wie in der westdeutschen Leichtathletik gedopt wurde. Wagner war damals auf dem Gipfel seines Könnens, er packte aus, als andere den Betrug noch verschleierten: Trainer, Funktionäre, Politiker. Erst jetzt, 40 Jahre später, vervollständigen neue Zeitzeugen das Gemälde des Betrugs; 31 Leichtathleten etwa, die in einer Doktorarbeit Anabolikadoping gestanden. Zwei Gutachten, die der Wissenschaftler Andreas Singler derzeit nach vielen Querelen mit der Uni Freiburg in die Öffentlichkeit bringt, stützen zudem, wie tief die Freiburger Sportmediziner Joseph Keul und Klümper ins westdeutsche Doping verstrickt waren. In Wagners Geschichte bündelt sich vieles von dem, was die Gutachten über Klümper festhalten. Der Skandal um dessen Wirken, bilanzieren Singler und Co-Autor Gerhard Treutlein, sei "ein Skandal des Spitzensports und all jener sozialen Akteure, die sich von diesem materiellen oder immateriellen Nutzen versprechen - nicht zuletzt der Politik auf verschiedenen Ebenen".

Wagners erster Dopingdealer war sein Trainer, Karlheinz Steinmetz, der später auch Olympiasieger Lars Riedel betreute. Wagner war 1,97 Meter groß, schnellkräftig, 61,88 Meter schaffte er ohne Stoff. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) nahm ihn trotzdem nicht mit zu Olympia 1976, keine Endkampfchance, sagten sie. Als Steinmetz kurz darauf Bundestrainer wurde, sagte er zu Wagner: "Wenn du die Pillen nimmst, wirfst du zehn Prozent weiter." Er versprach Meriten und Sponsoren, Wagner würde 10 000 Mark pro Monat verdienen statt 2000, die er damals als Polizist erhielt. Er weigerte sich, einmal, zweimal. Dann bekam eine Schachtel ohne Beipackzettel, 100 Tabletten, drei pro Tag. "Mir war schon klar, dass das Doping ist", sagte Wagner. Als er sich bei den Teamkollegen umhörte, sagten sie: "Wenn du in die Weltspitze willst, musst du was nehmen." Das Unrechtsbewusstsein, erinnert sich Wagner, "wurde sofort erstickt, nach dem Motto: Das machen doch alle".

Steinmetz behielt recht. Wagner wurde fünfmal deutscher Meister, warf 67,80 Meter, reiste durch die Welt, verdiente prächtig. Er fuhr zu Klümper, der ihm "inne Arschbacke" spritzte, eine Mixtur aus Aminozucker, Frischzellen, Pflanzenextrakt. Er sah, wie bei Klümper die Oberschicht des deutschen Sports ein- und ausging, auch Fußballer wie Paul Breitner. "Das war wie ein Wallfahrtsort", sagt Wagner. Aber er merkte und hörte auch, dass immer mehr Leichtathleten immer mehr schluckten, um die Normen des Verbands zu erfüllen, die sich an der verseuchten Weltspitze orientierten. Und Klümper brachte sie dorthin, während die Sportführung wegschaute. Heute weiß Wagner: "Der Politiker sonnt sich mit seinen Olympiasiegern, der Funktionär muss Ergebnisse vorzeigen, der Trainer muss sie garantieren." Sonst sind sie raus. Wagner lernte auch über Nebenwirkungen der chemischen Nachhilfe, Leberschäden, Impotenz. 1981, bei einer DLV-Sitzung, trug er seine Sorgen vor. "Der damalige Präsident August Kirsch hat mir daraufhin das Wort entzogen, im Beisein aller Athleten." Wagner schrieb Briefe an Josef Neckermann, Chef der Sporthilfe, an Willi Daume, Präsident des NOK. Die Bild berichtete. Keine Reaktion.

Wagner war jetzt ein Whistleblower, er spürte, wie der Sport ihn verachtete. Der DLV nominierte Werfer für Olympia 1988, die schlechter waren als er. Als Strafe, sagt Wagner. Er verlor Fördergelder, Ausrüsterverträge, Prozesse gegen Steinmetz, seinen Trainer, den er beschuldigt hatte. Auch weil andere Athleten, Mitwisser, "ein Kartell des Schweigens" bildeten. Erst, als ein Sprinter aussagte, gewann Wagner das Wiederaufnahmeverfahren. Später, 1990 reichte er sein Wissen an die Staatsanwaltschaft Darmstadt und den DLV weiter: "Da stand alles drin", sagt er, die Rezepte von Klümper, Schreiben von DLV-Funktionären, die ihn vor Dopingkontrollen warnten. Der DLV meldete sich nie wieder.

Kronzeuge zu sein, das heißt, im Stich gelassen zu werden, auch von Ärzten, die nie über Nebenwirkungen sprachen. "Ich kann aus dem Stand zwanzig Tote aufzählen, alles Kugelstoßer, Diskuswerfer, die alle hohe Dosen genommen haben", sagt Wagner. Er selbst hatte Darmkrebs, Blasenkrebs, wurde zuletzt elf Mal operiert. Er spürt leise Genugtuung, weil viele seine Geschichten jetzt stützen, aber auch Wut über die Heuchelei der Funktionäre: "Die wussten alle Bescheid, und niemand hat was unternommen." Er hält heute Vorträge an Schulen, fragt die Kinder, ob sie dopen würden - nein, sagen sie. "Passt mal auf", sagt Wagner dann, "zu euch kommt einer und sagt: Wenn du diese leistungssteigernde Substanz, die auf der Dopingliste steht, nimmst, verspreche ich dir ein schönes Leben und sehr viel Geld. Die Droge kann man nicht nachweisen." Und dann? Die meisten, sagt Wagner, würden sich für den Betrug entscheiden.

"Seht ihr", sagt er dann, "so kann man verführt werden. Und so bin ich auch verführt worden."

© SZ vom 31.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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