Leichtathletik:Fürs Sportgeschichtsbuch

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Kurz vor den Olympischen Sommerspielen verbessert Sprinter Julian Reus den deutschen Rekord über 100 Meter auf 10,03 Sekunden.

Von Johannes Knuth

Die Bilder waren etwas verwackelt, die ein Beobachter am Freitagabend, vermutlich per Mobiltelefon, aus Zeulenroda/Thüringen in die Welt funkte. Man erkannte: eine Tartanbahn, ein paar Läufer, die sich in der Ferne für die 100 Meter präparierten. Und, in Ermangelung von Tribünen: Bäume, viele Bäume. Kurz darauf zischte eine Handvoll Sprinter durchs Bild, vorneweg Julian Reus, der deutsche Titelinhaber. Sekunden später war das kleine Meeting in Zeulenroda dann ein Fall für die Sportgeschichtsbücher. Reus hatte bloß 10,03 Sekunden benötigt, eine neuer deutscher Rekord. Er japste ein paar Worte ins Stadionmikrofon, was man halt so sagt, wenn man die Bedeutung seiner Darbietung noch nicht so recht eingefangen hat. Dafür wagte sein Kollege Patrick Domogala, Dritter (10,43) hinter Reus und Sven Knipphals (10,26) eine erste, sportfachlich-differenzierte Einordnung. "Was ne' geile Scheiße!", rief Domogala in die Kamera.

Der Olympiasommer meint es gerade gut mit den deutschen Leichtathleten. Sie haben nach ihren Meisterschaften am vergangenen Wochenende 104 Athleten für die EM Anfang Juli zusammengezogen, so viele wie seit langem nicht mehr. Die nachrückende Generation drängt langsam in die Hauptrollen, manch Etablierter lässt sich von diesem Sog noch einmal mitreißen, Diskuswerfer Robert Harting zum Beispiel (der in Zeulenroda mit 65,91 m gewann). Sie produzieren gerade viele gute Nachrichten, damit lässt sich auch die eine oder andere Schwäche verhängen. Wobei sich manche Schwäche von einst, wie der Sprint, langsam in eine Stärke verwandelt.

Der Rekord über 100 Meter war bis 2014 im Besitz des Magdeburger DDR-Sprinters Frank Emmelmann gewesen, Emmelmann hatte ihn 1985 erschaffen, Reus kam drei Jahre später zur Welt. 29 Jahre lang hingen Emmelmanns 10,07 Sekunden über der Szene wie ein weit entferntes Ziel am Himmelszelt. Erst die Generation um Reus rückte der Marke näher. 2014 schob sich Reus schließlich an ihr vorbei, 10,05 Sekunden im Zwischenlauf in Ulm.

Reus hat sich der 10-Sekunden-Barriere mit einer Mischung aus Ambition und Demut genähert. "Es geht immer darum, jeden Wettkampf neu anzugehen, neue Konzentration zu fassen", sagt er, "dann muss man gucken, wo die Uhr stehen bleibt. Mehr kann man nicht machen." Die Schienen, auf denen er nun unterwegs ist, musste er über Jahre legen. Oft warfen ihn Verletzungen aus der Bahn, 2012 gewann er seinen ersten deutschen Titel im Einzel, über 200 Meter. Er startet mittlerweile für den TV Wattenscheid, lebt und trainiert in Erfurt, dort hat er sich ein enges Netz geknüpft, mit Heimtrainer, Physiotherapeut, Biomechaniker, Psychologin und Arzt. Es trägt ihn und fängt ihn auch mal auf. Seine Rekorde in Ulm, in der Halle (6,52 Sekunden im Februar über 60 Meter) und jetzt in Zeulenroda schaffte er auch deshalb, weil er nicht zu sehr an eben jene Rekorde dachte: "Das ist schon wichtig, dass man nicht mit Zeiten aufhält, sondern nur mit sich", sagt er.

Es tut sich was im deutschen Sprint, auch bei den Frauen, dort haben allein vier Athletinnen die 100-Meter-Norm für Rio eingereicht. Sie begreifen die Einzelübung Sprint längst als Teamsport, mit gemeinsamen Trainingslagern, in denen sie voneinander lernen, ein wenig abkupfern, sich antreiben. "Wir profitieren alle sehr voneinander", sagte Reus in Zeulenroda. Er weiß, dass die Erwartungen mit den Leistungen wachsen, am Freitag hat er sich an die dritte Stelle der europäischen Bestenliste 2016 gedrängelt. Aber Reus weiß auch, dass sich Rekordläufe nicht einfach in einen EM-Vorlauf am Vormittag hineinkopieren lassen. "Mein Ziel ist erst einmal ein gutes Rennen", hat er sich vorgenommen, dann ist bei der EM das Finale machbar, bei Olympia das Halbfinale. Rio soll nur die nächste Etappe auf einer längeren Reise sein.

© SZ vom 26.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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