Leichtathletik:Flirt mit der Historie

Lesezeit: 3 min

Hinein in neue Sphären: Mary Keitany läuft in London den zweitbesten Marathon der Geschichte. (Foto: AFP)

Die Kenianerin Mary Keitany läuft in London den zweitschnellsten Marathon einer Frau - und rüttelt am lange unangetasteten Weltrekord.

Von Johannes Knuth, London/München

Das komische Gefühl war schon beim Start da, es tauchte während des Rennens immer wieder auf und hielt bis zur Zielankunft an. Dieses Gefühl, sagte die Äthiopierin Tirunesh Dibaba später, dass ihre Konkurrentin Mary Keitany "niemals" dieses irre Tempo durchalten könne, mit dem sie sich ins Rennen geworfen hatte. Oder etwa doch?

Der London-Marathon am Sonntag war am Ende wieder einer für die Sportgeschichtsbücher, aber weniger dank der Männer, die in den vergangenen Jahren verlässlich die Bestzeiten verrückt hatten. Der Kenianer Daniel Wanjiru gewann nach 2:05:49 Stunden, acht Sekunden vor dem Äthiopier Kenenisa Bekele. Der Großmeister schleppte offenbar noch Schmerzen von seinem Sturz im Januar beim Dubai-Marathon mit sich herum, auch seine neuen Schuhe plagten ihn. Eliud Kipchoge, der Olympiasieger, hatte sich entschuldigt, er will Anfang Mai erstmals einen Marathon in weniger als zwei Stunden bewältigen, in einer Art Laborversuch. Nein, diesmal waren es die Frauen, die sich an die Rekorde heranwagten, wie bei einer Expedition in unerforschtes Terrain. Viel hätte nicht gefehlt, und Paula Radcliffes unwirklicher Weltrekord wäre tatsächlich zerbröckelt - jene 2:15:25 Stunden, die die Britin vor vierzehn Jahren in die Szene geknallt hatte.

Vorjahressiegerin Sumgong fehlte in London - sie wurde vor zwei Wochen positiv getestet

Mary Keitany aus Iten, Kenia traf dann nach 2:17:01 Stunden ein, knapp eine Minute vor Dibaba. Es war der zweitbeste Marathon einer Frau überhaupt, der beste gar in einem reinen Frauenrennen; Radcliffe war bei ihrem Rekord mit männlicher Begleitung gelaufen. Keitany war trotzdem "sehr happy" über den Tag, an dem sie lange mit der Sporthistorie geflirtet hatte. "Das Wetter war gut", sagte sie, zehn Grad, kaum Wind, "das war schön für mich und mein Tempo". Nebenbei hatte sie noch ein bemerkenswertes Zeichen abgesetzt: Dass sie und ihre Kolleginnen gewillt sind, an Radcliffes Zeiten zu rütteln, die lange über der Szene hingen, scheinbar unerreichbar.

Keitany hatte sich jedenfalls mutig ins Rennen gestürzt, unbeschwert von Gedanken an Konsequenzen oder gar eine Niederlage. Die ersten fünf Kilometer: 15:31 Minuten, halsbrecherisch. Der Halbmarathon: 66:54 Minuten, langsamer, aber noch weltrekordreif. Vor Keitany lag allerdings noch die Hälfte der Strecke, und die letzte Tempomacherin hatte sich gerade verabschiedet. Von hinten rollte Dibaba heran, die auf einen Einbruch Keitanys wettete. Dann wurde Dibaba von Magenkrämpfen erfasst. Keitany war längst langsamer geworden. Aber sie brach nicht ein.

Der Erfolg der 35-Jährigen kam freilich kaum überraschend. Ihren ersten Marathon gewann sie vor sechs Jahren, in London. Sie knüpfte fünf weitere Siege daran, dreimal New York, zweimal London, 2012 schaffte sie dort 2:18:37 Stunden. Bei Olympia 2012 wurde sie Vierte. Zwischen all dem wurde sie zweimal Mutter. Sie hält die Dinge einfach in einem Zeitalter, in dem an den Athleten und deren Ausrüstung oft getüftelt wird wie an einem Formel-1-Auto. "Ich höre einfach auf meine Erschöpfung", hat sie dem New Yorker mal erzählt, so entscheide sie, wann sie angreife oder nicht. Sie zählt keine Trainingskilometer, das macht ihr Trainer, der Italiener Gabriele Nicola. Bloß bei Olympia 2016 in Rio hatte sie gefehlt: Keitany war vor einem Jahr in London gestürzt, Kenias Funktionäre nahmen lieber die unerfahrenere Visiline Jepkesho zu Olympia mit, die dann 86. wurde. Keitany dominierte derweil munter die Szene, bis zu diesem Sonntag. Und jetzt?

Es hat eine Weile gedauert, aber der Marathon-Weltrekord bei den Frauen könnte bald mal wieder vor einer feindlichen Übernahme stehen. Die Szene litt ja lange darunter, dass Frauen in Afrikas Gesellschaften bis zur Jahrtausendwende im Haushalt gebunden waren. Die Männer liefen, sollten von Spähern entdeckt werden, die Familie aus der Armut heben. Das hat sich geändert. Wobei die Erfolge längst auch von Zweifeln umweht sind, unabhängig vom Geschlecht. Knapp 50 Kenianer wurden seit 2011 positiv getestet, auch in der Elite. Vor drei Jahren flog Rita Jeptoo auf, vor zwei Wochen ihre Trainingspartnerin Jemima Sumgong, bei einer Trainingskontrolle, ebenfalls mit dem Blutbeschleuniger Epo. Sumgong hatte 2016 in London und in Rio gewonnen, nach einigen bemerkenswerten Leistungssprüngen. Sumgongs Manager, der Italiener Federico Rosa, war nach Jeptoos Positivtest gar in Kenia verhaftet worden, im vergangenen November kam er frei. Jemand habe ihn wohl bei der Polizei angeschwärzt, deutete er an, und überhaupt: Er habe nie etwas vom Betrug seiner Athletinnen mitbekommen.

Noch ist vieles im Ungefähren, wie bei den meisten Dopingfällen der Leichtathletik. Rosa klagte nach Sumgongs Fall über "skrupellose kenianische Ärzte", die unwissende Athleten dopen würden. Und Kenias Behörden, die oft für ihre laxen Kontrollen gerügt wurden? Die kündigten jüngst an, ausländische Betreuer künftig verschärft zu beobachten, die sie hinter den Problemen vermuten. Die World Marathon Majors, die die wichtigsten Marathonläufe beaufsichtigt, ist da weiter; sie hat ein Testprogramm aufgespielt, in dem die Klassenbesten mindestens sechsmal pro Jahr im Training kontrolliert werden. Sumgong ging bei einer dieser Kontrollen ins Netz. Wobei Beobachter bemängeln, dass die Initiative zwar löblich sei, aber längst nicht alle Betrüger und Mittel erfassen könne. Wie die Tests des Weltverbands. Was den grassierenden Generalverdacht nährt, den auch Mary Keitany in London spürte.

"Wenn ich am Start stehe, will ich als sauber gelten", sagte sie: "Derzeit vertrauen manche Leute Kenia nicht."

© SZ vom 24.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: