Leichtathletik:Ein X für die Oromo

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Seit seinem Silber-Gewinn in Rio protestiert Äthiopiens Marathonläufer Feyisa Lilesa gegen die Unterdrückung seines Volksstammes in Ostafrika. Doch dessen Lage hat sich seitdem nicht gebessert.

Von Johannes Knuth, Chicago/München

Die Geste gehört für ihn mittlerweile ganz selbstverständlich dazu, wie das Aufwärmen, das nervöse Warten an der Startlinie, der Gruß ins Publikum. Für seine Geste legt der Marathonläufer Feyisa Lilesa die Handgelenke übereinander, reckt sie in die Höhe über sein ernstes Gesicht mit dem schwarzen, gekräuselten Haar. Wie ein X sieht das aus, oder wie bei einem, dem man die Hände zusammengeschnürt hat. Später, wenn Lilesa ins Ziel kommt - wie jetzt beim Marathon in Chicago, den er als 14. beendete - malt er das X noch mal in die Luft. Das ist Lilesas neues Leben, seit einem Jahr: Er rennt, gewinnt ab und zu, protestiert.

Feyisa Lilesa, 27, aus dem Jaldu-Distrikt in Äthiopien, gewann im Sommer 2016 Silber im olympischen Marathon von Rio, in zwei Stunden, neun Minuten, 54 Sekunden. Eine Notiz eigentlich, aber dann rauschten im Ziel Lilesas Arme in die Höhe, und plötzlich fand er sich im internationalen Nachrichtengeschehen wieder. Lilesa wollte mit der Geste auf seine Volksgruppe aufmerksam machen, die Oromo, die in seiner ostafrikanischen Heimat bis heute blutig unterdrückt werden. Er fürchte um sein Leben, sagte Lilesa damals in Rio. Kurz darauf tauchte er in den USA wieder auf, im Exil, wie er betont. Er ist frei, aber noch immer gefangen in den politischen Wirren, die seine Heimat zerfurchen. "Seit ich das Land verlassen habe, hat sich die Situation sehr verschlimmert", sagte er zuletzt der New York Times, "meine Leute leben in der Hölle. Das lässt mir keine Ruhe."

Lilesa war vor Rio bekannt für seine Gabe als Läufer, aber er war auch schon immer politisch, wie viele der jüngeren Oromo-Generation. Er wuchs auf einer Farm auf, sah, wie die Polizei friedliche Proteste niederknüppelte. Manchmal verschwanden Schulkameraden, von einen Tag auf den nächsten. Drei Monate vor Olympia beschloss Lilesa, zu protestieren, aber er sagte niemandem etwas, zu unsicher. Als er in Rio ins Ziel rauschte, war die Familie in der Heimat berauscht vor Glück, doch als sie die Geste sah, legte sich Stille über Lilesas Haus: Was würde jetzt aus ihm werden, der Karriere, dem Leben? Ihrem Leben?

Lilesa erzählte derweil bei der Pressekonferenz von Tod und Verfolgung, der äthiopische Übersetzer ignorierte die Passage, also rief Lilesa in gebrochenem Englisch in die Kameras: "Äthiopische Regierung tötet Oromo! Viele Leute im Gefängnis. Wer Rechte fordert ... sie töten dich!" Er saß drei Wochen in seinem Hotel in Rio, kam an ein Visum für die USA, lebte bei einem Läufer im Höhentrainings-Hotspot in Flagstaff, Arizona. Lilesa hat mittlerweile eine Green Card, seine Frau und zwei Kinder zogen im vergangenen März nach. "Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal im Exil leben würde", sagte er. Lilesa glaubt, dass die äthiopische Regierung seine Familie nur ausreisen ließ, um negative Berichte zu vermeiden. Nach Äthiopien will er erst wieder reisen, wenn es sicher ist. Eine Frage von Jahren, glaubt er, mindestens.

Die Regierung sagt, man werde Lilesa als Held empfangen - er glaubt ihr nicht

Die Oromo stellen rund ein Drittel der 100 Millionen Einwohner Äthiopiens, Menschenrechtsorganisationen berichten seit Längerem von Konflikten. Human Rights Watch schreibt in seinem jüngsten Bericht, äthiopische Sicherheitskräfte hätten 2016 in den Regionen Oromia und Amhara "Hunderte getötet und Zehntausende verhaftet", oft nach friedlichen Protesten. Viele würden ihr Land verlieren und in Armut leben. Die Regierung, die bis Anfang August den Ausnahmezustand verhängte, beteuerte, man werde Lilesa in seiner Heimat als Held empfangen. Alles Lügen, glaubt Lilesa. Kurz nach Rio erfuhr er, dass ein Freund bei einem Brand in einem Gefängnis ums Leben kam, unter mysteriösen Umständen. Sein Bruder Aduna sei vor einem Jahr, nach Rio, von Soldaten aufgehalten worden, sie sollen ihn geschlagen und nach Feyisa gefragt haben. Lilesa sprach unterdessen im Europäischen Parlament vor, schrieb Essays in Zeitungen, redete mit US-Senatoren. Er wolle erreichen, dass die amerikanische Regierung und andere Staaten ihre Beziehungen zu Äthiopien überprüfen. Im September verschärfte die US-Botschaft in Addis Abeba tatsächlich ihren Ton gegenüber der Regierung, der sie nahesteht. Ein HRW-Report beschrieb allerdings erst vor einer Woche, wie äthiopische Behörden jahrelang von amerikanischer Überwachungstechnik profitierten.

Solange Lilesa im Exil lebt, wird er nicht bei Weltmeisterschaften und Olympia starten, der äthiopische Verband wird ihn nicht nominieren. Die olympische Charta verbietet auch jegliche Demonstrationen, wobei das IOC das je nach Gusto auslegt: In Rio habe man Lilesa nur an die Charta "erinnert", wie ein Sprecher auf Anfrage sagte. IOC-Präsident Thomas Bach hatte sich gerade für sein olympisches Flüchtlingsteam feiern lassen, da wollte man den Trubel um den protestierenden Flüchtling Lilesa offenbar nicht zu groß werden lassen. Der 27-Jährige kann aber weiter bei kommerziellen Marathons starten (und als Eliteläufer ein sechsstelliges Jahreseinkommen erwirtschaften). Und Lilesa bekräftigt, dass er längst auch läuft, um an sein Anliegen zu erinnern, immer wieder. In diesem Jahr gewann er die Halbmarathons in New York und Bogota, wurde Dritter beim Great North Run im September, er zeigte jedes Mal sein X. "Ich werde meine Plattform nutzen, um gegen Unrecht und dessen Täter zu protestieren", sagt er. Seine Beine sind noch immer schnell, aber die Stimme ist längst genauso stark.

© SZ vom 11.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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