Leichtathletik:Die letzten Loopings

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Christina Obergföll, Betty Heidler, Bernard Lagat: Beim Internationalen Stadionfest in Berlin verabschieden sich viele Stammkräfte von der internationalen Leichtathletik-Bühne.

Von Johannes Knuth, Berlin

Und dann steigerte sich die Speerwerferin Christina Obergföll plötzlich in dieses Gefühl hinein. Sollte sie ihr Sportlerleben doch noch mal verlängern? In der Leichtathletik geht es ja immer weiter, nach Olympia wartet die WM, dann die EM, irgendwann die nächsten Sommerspiele. Obergföll hatte sich am Wochenende noch einmal gewärmt am Lärm und der Freude, die sie beim Internationalen Stadionfest Istaf im Berliner Olympiastadion umgaben. Und diese 64,28 Meter, die sie in die Wertung trug, waren ihr leicht von der Hand gegangen. Also: Warum nicht doch ein paar Jährchen dranhängen, bis zur EM in Berlin in zwei Jahren . . .

Obergföll schüttelte den Gedanken schnell wieder ab. Sie ist 35, seit zwei Jahren Mutter, "meine Eltern bringen mich sonst echt um, mein Mann auch", sagte sie. Sie fand am Samstag doch noch einen friedlicheren Weg, um ihre Sportkarriere zu einem Ende zu führen. "Das war mein letzter Wettkampf", hielt sie amtlich fest. Irgendwann muss man ja auch mal ankommen, wenn man mehr als ein Jahrzehnt durch den Sport gewandert ist. Obergföll beschloss: "Es ist alles gut so, wie es ist."

Das 75. Sommer-Istaf hat den Leichtathleten am Samstag einen weitgehend harmonischen Saisonausstand bereitet. Diskuswerfer Robert Harting verabschiedete sich nach diversen Verletzungen mit Platz drei und 63,23 Metern in die Pause. Kim Collins aus St. Kitts und Nevis gewann die 100 Meter in 10,07 Sekunden, er will auch 2017 wieder in Berlin antreten, Collins wäre dann 41. Wobei die permanenten Abschiede diesmal das größere Thema waren: Ein halbes Dutzend an Stammkräften trat ab, national wie international. Speerwerferin Linda Stahl, Stabhochspringer Björn Otto, Dreispringer Raul Spank und Hammerwerferin Betty Heidler waren als Gäste geladen, Bernard Lagat und Christina Obergföll duften auf der größten deutschen Meeting-Schaubühne noch einmal auftreten. Vor allem Obergfölls Wettkampf verlief interessant, nicht nur, weil sie gewann. Sondern weil er noch mal ihre Karriere nachstellte, eine Gefühlsachterbahn mit Loopings, Aufs und Abs, und dann kam er doch noch, der große Wurf.

Obergföll hatte schwer in ihren letzten Wettkampf hineingefunden. Die aktuelle Saison hatte es nicht gut mit ihr gemeint, vor Olympia zitterte sie um ihren Startplatz, Katharina Molitor klagte (erfolglos) gegen Obergfölls Nominierung. In Rio wurde sie Achte, nur Achte. Jetzt zwickte die Achillessehne, wenn es blöd läuft, sagte ihr Physiotherapeut in Berlin, könnte sie reißen. Die Weiten der anderen waren erst mal besser, aber dann hatte Obergföll doch noch ihren Moment, im fünften Versuch. Vor dem letzten, als ihre Konkurrentinnen neben der Anlaufpiste ein Spalier bildeten, trug sie schon ein paar Tränen im Gesicht.

Auch Kim Collins hat seine Karriere als Sportler in Berlin beendet - mit einem Sieg beim 100-Meter-Sprint. (Foto: imago/Nordphoto)

Gute Momente sind erst dann richtig gut, wenn man auch mal die schlechten kennenlernt, Obergföll kann einiges davon erzählen. Sie gewann 2005 überraschend WM-Silber, 2008 bei Olympia die einzige Medaille des DLV, eine bronzene, 2012 dann Olympia-Silber. Aber sie wurde stets vom Makel umweht, dass sie ihre große Begabung nicht in einen goldenen Wurf überführte. Bei der WM 2009 in Berlin etwa, als Steffi Nerius gewann, Obergföll wurde Fünfte. Oder 2011, als sie bei der WM in Daegu auf Rang vier strandete und "alles hinschmeißen wollte", wie sich sich nun erinnerte. "Ich habe wirklich geglaubt, dass ich die ewige Zweite bleiben werde."

2013 wurde sie in Moskau doch noch mit WM-Gold belohnt. Auch, weil sie und ihr Trainer Werner Daniels in ihrem kleinen Biotop bei der LG Offenburg ein wenig gegen die Lehrmeinung arbeiteten. Obergföll war früher Siebenkämpferin, Daniels führte sie behutsam an den Speerwurf heran, mit wenig Spezialtraining, um sie mit ihrem kräftigen Stemmschritt vor Verletzungen zu schützen. Manche fanden das unsinnig, aber spätestens bei Olympia 2012 spürten sie, dass die Saat aufging.

Speerwerfer Johannes Vetter hat sich beim 75. Sommer-Istaf den Sieg geholt. (Foto: imago/Chai v.d. Laage)

Manche Leichtathletik-Ressorts sind nun äußerst dünn besetzt

Es geht immer weiter im Sport, auch ohne die Stammkräfte, aber ob das eine tröstliche Nachricht ist für die deutsche Leichtathletik, muss sich nach den durchwachsenen Spielen von Rio noch zeigen. Bei aller Klasse sind manche Ressorts nun doch etwas dünn besetzt, auch im Speerwurf, einer der zuverlässigsten deutschen Medaillenschmieden. Weltmeisterin Molitor überlegt noch, ob sie ihre Karriere fortsetzt, die junge Christin Hussong überführt ihre Begabung (noch) nicht konstant in große Weiten. Und im Hammerwurf klafft ohne Heidler und hinter Kathrin Klaas eine noch größere Lücke. Andererseits: "Bei den Männern ist es krass, was im Speerwurf gerade abgeht", sagte Obergföll. Johannes Vetter, 23, gewann in Berlin mit 89,57 Metern vor Julian Weber (22/88,29) und Andreas Hofmann (24/85,42). Da fiel kaum auf, dass Olympiasieger Thomas Röhler, 24, sich im Gestrüpp seiner Müdigkeit verhedderte und Vierter wurde. Und sonst?

Der Amerikaner Bernard Lagat, 41, nutzte das letzte Bahnrennen seiner langen Karriere in Berlin, um ein paar nachdenkliche Wortmeldungen zu hinterlassen. "Als ich 1999 nach Deutschland gekommen bin, gab es so viele Rennen, die mittlerweile verschwunden sind", erinnerte er sich: Stuttgart, Kassel, Rehlingen, Leverkusen.

Bernard Lagat will den Sport aus den Stadien in die Städte tragen

"Wenn das so weitergeht", fragt er, "wie lange haben wir dann überhaupt noch Meetings wie Berlin?" Die großen Schaubühnen halten sich noch tapfer, aber die Mittelschicht bröckelt, bei Veranstaltern, auch bei Athleten, die nicht allein von ihrem Sport leben können und immer häufiger aus den zehrenden dualen Karrieren fallen. "Wir müssen den Sport wieder besser zu unseren Fans bringen", sagte Lagat, mit Formaten im und außerhalb des Stadions, "um wieder Interesse zu gewinnen."

Wird auch künftig mitmischen: Läufer Bernard Lagat will als Trainer weitermachen. (Foto: imago/Nordphoto)

Lagat will bei diesem Arbeitsauftrag künftig selbst mitwirken, als Trainer. Er hat Frieden mit seiner Karriere geschlossen, nur eine Sache bereue er, sagte er: Das Wochenende, an dem Hicham El Guerrouj vor 17 Jahren den Weltrekord über die Meile verbesserte. Lagat hatte das auch drauf, "ich war damals in der Form meines Lebens", aber die Chance verstrich. "Ich hatte mich entschieden, in der Woche freizumachen."

© SZ vom 05.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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