Leichtathletik:Den Umständen entsprechend

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Zehnkämpfer Michael Schrader wollte nach Rio, nun liegt er im Krankenhaus.

Von Alexander Mühlbach, München

Für ein paar Sekunden denkt sich Michael Schrader weg. Weg von den Schmerzen, weg vom Bett in einer Kölner Klinik, hinein in ein Leichtathletik-Stadion. Dorthin also, wo der Zehnkämpfer sein halbes Leben verbracht hat, wo er sich wohlfühlt. Das Stadion, schreibt der WM-Zweite von 2013 auf seiner Webseite, sei wie sein Wohnzimmer. Darüber steht noch ein weiterer Satz, den Schrader in den vergangenen Monaten oft wiederholt hatte: "Ich träume davon, 2016 Olympiasieger in Rio zu werden", steht da. Lange Zeit klang der Satz nach Selbstbewusstsein, im Krankenhaus aber klingt der Satz wie Hohn, beinahe verletzend.

Schrader wird definitiv nicht Olympiasieger in Rio werden, bei den Spielen im August. Es ist eher die Frage, ob der sechstbeste deutsche Zehnkämpfer der Geschichte überhaupt jemals wieder einen Zehnkampf bestreiten wird. Alleine seine Diagnose würde ja schon ausreichen, um die Karriere von mehreren Sportlern zu beenden: Durchriss der Patellasehne, Kreuzbandriss, Außen- und Innenbandriss am Knie, ein völlig lädierter Meniskus. Ein Totalschaden. Sechs Monate auf Krücken. Mindestens ein Jahr keine stärkeren Belastungen mehr. "Was soll man machen?", fragt der 28-Jährige in die Leere hinein. Er kann ja nicht die Zeit zurückdrehen.

Totalschaden im Knie, Michael Schrader bleibt trotzdem Optimist. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Am 22. Januar ist es passiert. Da war der gebürtige Duisburger zu Gast in Leverkusen, dem deutschen Stabhochsprung-Mekka, wo er gemeinsam mit dem Bundestrainer an einer der technisch anspruchsvollsten Disziplinen der Leichtathletik feilen wollte. Michael Schrader will sich immer weiterentwickeln, besser werden. Es gibt Tage, da kann er stundenlang Stabhochspringen, während er alles um sich herum vergisst. Bei jenem Sprung kann er sich aber noch an alles erinnern. Wie er die letzten sieben Schritte zu tief lief, wie er beim Absprung einen halben Meter über der Erde den Halt am Stab verlor und gegen die Matte knallte. Wie das Bein danach plötzlich schief stand. "So ein Sprung", sagt Schrader, "passiert bei einem von Milliarden Versuchen." Er klingt ruhig, wenn er das sagt, dabei hätte er allen Grund, wütend zu sein. Auf seinen Körper, auf seine Karriere, auf sein Pech.

Schließlich hatten Michael Schrader alle eine große Karriere prophezeit. Damals im Jahr 2008 beispielsweise, als er Zehnter bei den Olympischen Spielen wurde un dmit 20 Jahren plötzlich zu den Besten der Welt gehörte. Als er ein Jahr drauf den international renommierten Zehnkampf in Götzis gewann. Aber schon damals verletzte er sich. Wegen mehrfachen Stressfrakturen und einem Ermüdungsbruch im Kahnbein verpasste er die Heim-WM in Berlin 2009, dann Olympia 2012. Schrader trainierte, verletzte sich, trainierte wieder, verletzte sich wieder. Vier Jahre lang brachte er keinen Zehnkampf zu Ende, er drohte aus dem Fördersystem des deutschen Verbands zu fliegen.

Aber Schrader machte weiter. Weil er diesen Sport, in dem man sich zwei Tage lang völlig unterschiedlichen Herausforderungen stellen muss, sehr liebt. Aber auch, weil er keinen anderen Plan hatte als den, Zehnkämpfer zu sein - obwohl er beim Aufstehen immer erst mal Schmerzen in den Sprunggelenken verspürte. "Das verläuft sich aber nach ein paar Stunden", sagte Schrader. "Aufgeben gilt nicht." Er sollte Recht behalten. 2013 gewann er völlig überraschend Silber bei den Weltmeisterschaften in Moskau, woraufhin Frank Busemann, der Silber-Gewinner im Zehnkampf von 1996, im Bezug auf Schraders Leidensgeschichte schrieb: "Wer hält das aus? Ein Irrer? Ein Fanatiker? Schrader."

Auch jetzt versucht Schrader es auszuhalten. Immer wieder sagt er: "Es geht mir den Umständen entsprechend gut." Es hätte ihn ja viel schlimmer treffen können, erklärt Schrader, aber er klingt traurig, wenn er das sagt. Olympia ist schließlich das Größte für einen Athleten. Dort werden Karrieren begonnen, vollendet und beendet. Zwei Wochen voller dramatischer Geschichten, welche die Welt bewegen. Schrader aber erlebt nun seine eigene dramatische Geschichte, ohne dass es irgendjemand in der Welt bewegt.

Das Krankenhaus lässt ihm viel Zeit über all die Dinge nachzudenken: über Olympia, über das eigene Training, über die Karriere. Sein Trainer Wolfgang Kühne hatte vor ein paar Monaten mal gesagt, dass Olympia 2016 seine letzte Chance wäre, um die Spiele noch ein zweites Mal zu erleben. Trotzdem sagt Schrader: "Ich habe noch einmal Olympia in mir." In vier Jahren, in Tokio, dann wäre Schrader 32 Jahre alt. Nur muss das Knie dann halten. "Der Arzt ist optimistisch", sagt Schrader. "Ich bin es auch." Dann träumt er sich wieder weg, hin zu dem Leichtathletik-Stadion, seinem Wohnzimmer, das ihm alles bedeutet.

© SZ vom 03.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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