Leichtathletik:Auf zwei Leitern gleichzeitig

Lesezeit: 3 min

2013 wurde Silvio Schirrmeister (Mitte) in Ulm deutscher Meister über 400 Meter Hürden, vor einer Woche beendete der 26-Jährige seine Sport-Karriere. (Foto: imago)

Der Rücktritt von Silvio Schirrmeister zeigt, dass Existenzsorgen von Sportlern in dualen Karrieren zunehmen.

Von Johannes Knuth, München

Silvio Schirrmeister war gerade aus den Flitterwochen zurück, als er merkte, dass etwas nicht stimmte. Schirrmeister hatte im Mai geheiratet. Er war einer der besten 400-Meter-Hürdenläufer des Landes, arbeitete in Teilzeit bei einer Bank; er hatte gerade ein paar gute Jahre als Athlet hinter sich, an die sich nun ein paar sehr gute reihen sollten. Aber Schirrmeister war jetzt irgendwie beladen mit dieser Schwermut. In der Filiale schaffte er nicht mehr das, was er sonst schaffte, die dunklen Gedanken daran schleppte er ins Training mit. "Zu Hause hatte ich keine Kapazität mehr, irgendwas aufzunehmen", erinnert er sich, "ich war nicht mehr ich selbst." Vor einer Woche beendete Silvio Schirrmeister, 26, aus Dresden, dann seine Laufbahn, die ihn auf zwei Gleise geführt hatte - "duale Karriere" nennt der deutsche Sport dieses Modell. Den Hürdenläufer Schirrmeister gibt es nun nicht mehr.

"Ich habe den Kampf gegen das Monster der dualen Karriere verloren", sagt er.

Schirrmeisters Kampf begann 2007, als er Junioren-Europameister wurde. Er lief die Hürden in 50,60 Sekunden, ein Talent, gut, aber noch nicht gut genug für die Sportfördergruppe der Bundeswehr. Er zog von Neubrandenburg nach Dresden, zu seinem Trainer, parallel ließ er sich bei der örtlichen Sparkasse ausbilden, zur Absicherung. Er drückte seine Bestzeit auf 49,21 Sekunden, vertrat den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) bei Olympia 2012 in London. 2013 wurde er in Ulm deutscher Meister. Schirrmeister spürte bereits, dass er es nicht nur mit Konkurrenten auf der Bahn zu tun hatte, sondern auch in der Filiale, im Kampf um Vorgaben und Jobs. Als müsse man zwei Leitern gleichzeitig erklimmen. Heute sagt er: "Das aktuelle System führt einen an Grenzen, was weder Sport noch Beruf gut tut."

Wer sich als Sportler in Deutschland nicht einer Fördergruppe von Bundeswehr, Zoll oder Polizei anschließt, wagt sich oft in eine duale Karriere. Die deutsche Sporthilfe hat errechnet, dass diese Athleten durchschnittlich 59,8 Stunden pro Woche arbeiten, sie trainieren, regenerieren, kümmern sich um Sponsoren und ihre Homepage, nebenbei lernen sie für Klausuren oder bedienen Kunden in einer Bankfiliale. Sie verdienen dafür im Schnitt 626 Euro im Monat, netto. Sie sind keine Profis, allenfalls Profis darin, als Amateure Hochleistungen zu erbringen.

Schirrmeister ging es insofern noch gut. Sein Arbeitgeber überwies ihm 1300 Euro, netto. Von Sporthilfe und Verein blieben 500 Euro übrig, der DLV finanzierte die Flüge ins Trainingslager nach Südafrika. Vor einem Jahr überredete der Verband auch Schirrmeisters Arbeitgeber, dessen Arbeitszeit herunterzufahren, bei gleichen Bezügen. "Aber da war es eigentlich schon zu spät", sagt Schirrmeister. Er kam auf keiner der beiden Karriereleitern mehr so recht voran. Heute ist er erleichtert, er fühlt sich aber auch verschaukelt: "Die Verbände propagieren etwas, was kaum umsetzbar ist", sagt er, er meint die duale Karriere: "Die Förderung sieht ja oft so aus, dass sich jeder selbst kümmern muss."

Michael Ilgner, Chef der Deutschen Sporthilfe, kann Schirrmeisters Schritt "absolut nachvollziehen". Letztlich sei der Rücktritt ein weiteres Beispiel dafür, "dass noch sehr viel getan werden muss, damit wir nicht noch mehr Sportler und vor allem Talente verlieren". Also jene 17 Jahre alten Jugend-Weltmeister, die mit ihren Eltern darüber beraten, ob sie ins Hochleistungsgewerbe einsteigen sollen oder nicht. Ilgner hält wenig davon, die duale Karriere abzuschaffen, das Monster quasi einzusperren. Man müsse Athleten so fördern, sagt er, "dass sie nach ihrer Karriere eine Perspektive haben". Und dafür sollte man kein neues Modell entwerfen, sondern das bestehende System justieren, findet Ilgner. Bei der Sporthilfe kann sich mittlerweile jeder Kaderathlet für ein Sportstipendium der Deutschen Bank (und damit bis zu 400 Euro pro Monat) bewerben; früher waren derartige Prämien oft denen vorbehalten, die bei WM oder Olympia erfolgreich waren. "Wir glauben, dass wir vor allem die Athleten auf dem Weg nach oben fördern müssen", sagt Ilgner. Sie haben auch die Initiative "Sprungbrett Zukunft" geschaffen; Sportler können sich dabei bei ausgewählten Unternehmen bewerben, zum Beispiel für Praktika. Ilgner ist es wichtig, dass seine Sportler ihren Weg frei wählen können, anders als in anderen Systemen. Auch wenn diese Freiheit bedeutet, dass man über nicht allzu viele Freiheiten verfügt. Wie Felix Franz, ein anderer Hürdenläufer, Bestzeit 48,96 Sekunden, Student der Verfahrenstechnik. Franz weiß schon jetzt: Wenn er sich 2016 für Olympia qualifiziert, wird er sein Studium wohl abbrechen müssen, er wird es dann nicht in der Regelstudienzeit zu Ende bringen.

An der Uni sagten sie ihm: "Was Sie in ihrer Freizeit machen, ist ihr Problem."

Der Mittelstand der Leichtathletik bröckelt, der Sport bewegt sich, aber diese Mühle, sagt Schirrmeister, "mahlt so lahm". Währenddessen fordert die Politik mehr Medaillen, mehr Geld spendieren möchte sie aber nicht. "Wir haben auch keine Entwicklungs-, sondern eine Leistungsförderung", sagt Schirrmeister: "Wir gießen dort Geld hin, wo Leistung ist, nicht wo Leistung entstehen könnte." In den vergangenen Jahren haben viele Athleten auch deshalb die Geschäfte eingestellt, Schwimmer Markus Deibler, die Leichtathleten Christian Reif, Helge Schwarzer und Schirrmeister. Der Sport verliert reflektierte Athleten mit robustem Selbstbewusstsein, er verliert diejenigen, die er am meisten braucht. "Wir propagieren den mündigen Athleten", hat DLV-Präsident Clemens Prokop einmal über die aktuelle Generation gesagt. Man wird den Eindruck nicht los, als äußere sich diese Mündigkeit immer häufiger darin, sich für eine von zwei Karrieren zu entscheiden.

© SZ vom 17.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: