Leichtathletik:An erster Stelle der Rangliste

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"Durch den Kleinen hat sich das Mentale schon verändert": Speerwurf-Weltmeisterin Christina Obergföll hat ihre Prioritäten verschoben. (Foto: Uwe Anspach/dpa)

Speerwerferin Christina Obergföll lernt, mit ihrer Rolle als Mutter im Spitzensport zurechtzukommen. Ihr Fernziel ist die WM-Titelverteidigung im August in Peking.

Von Johannes Knuth, München

Neulich ist Christina Obergföll Sechste geworden. Sechste Plätze sind nicht der Anspruch der Speerwurf-Weltmeisterin von der LG Offenburg, schon gar nicht, wenn sich auf den ersten fünf Plätzen Athletinnen einreihen, die sie für gewöhnlich im Griff hat. Obergföll ist eine durchaus emotionale Person, aber die Zeiten, in denen sich die 33-Jährige über hintere Plätze echauffiert, sind anscheinend vorbei. "Ich mache mich nicht mehr verrückt", sagt Obergföll über ihre nicht gerade sensationellen 62,08 Meter, neulich in Shanghai.

Obergföll ist vor ein paar Monaten Mutter geworden, der Auftritt beim Diamond-League-Meeting war ihr erster nach eineinhalb Jahren Schwangerschaftspause. Was ihr besonders in Erinnerung geblieben sei? Dass sie mal wieder zehn Stunden am Stück habe nächtigen können, sagt sie: "Ich habe geschlafen wie ein Stein."

Es ist noch die gleiche Christina Obergföll, die man in diesen Tagen antrifft. Und doch hat sich viel verändert.

Es ist ein kleiner Trend: Etliche Athletinnen kehren als Mütter in den Wettkampfbetrieb zurück

Die Leichtathletik nähert sich gerade ihren ersten Höhepunkten dieser Saison. Zu diesem Anlass tasten sich einige prominente Mütter wieder in den Wettkampfbetrieb hinein. Die Russin Marija Abakumowa zum Beispiel, Obergfölls Konkurrentin im Speerwurf, Weltmeisterin von 2011. Die Britin Jessica Ennis-Hill, die Olympiasiegerin bestreitet am Wochenende in Götzis ihren ersten Siebenkampf seit zwei Jahren. Auch Mehrkämpferin Jennifer Oeser (Leverkusen) kehrte gerade in Ulm zurück (und verpasste die WM-Norm von 6150 Punkten nur knapp). Und dann ist da Christina Obergföll, Mutter von Marlon, elf Monate alt. Die Mütter sind gerade ein kleiner Trend in Europas Leichtathletik: Im Vorjahr holte die Tschechin Barbora Spotakova 15 Monate nach ihrer Schwangerschaft in Zürich EM-Gold im Speerwurf, die Britin Jo Pavey gewann als zweifache Mutter an selbiger Stelle die 10 000 Meter. Obergföll plant ein ähnliches Comeback. Die ersten Etappen auf diesem Weg sind Shanghai und das Diamond-League-Meeting in Eugene an diesem Wochenende, der letzte Abschnitt soll dann nach Peking führen, zur WM im August. Sie hat ja immerhin einen Titel zu verteidigen.

Was zur Frage führt: Was kann man von der neuen Christina Obergföll erwarten?

Physisch hat sich wieder alles eingespielt, sagt sie, "die Zubringerwerte sind in Ordnung". Die Nächte sind anstrengend, Marlon zahnt gerade, im Training ist sie müde, "da fehlen oft ein, zwei Prozent", sagt sie. Aber das sei nicht die größte Umstellung.

Hochleistungssportler sind Ein-Mann- oder Ein-Frau-Unternehmen. Sie takten jede Phase des Tages durch, optimieren, beschäftigen Trainer, Therapeuten, Berater, alles zu einem Zweck: Wie kann ich besser werden, ich, der Athlet? "Jetzt steht das Kind an erster Stelle. Man hat sich verändert", sagt Obergföll. Früher trainierte sie zwei Mal am Tag, jetzt nur noch einmal, dafür länger. "Ich will Marlon nicht ständig weggeben und wieder holen", sagt sie. Sie wollte ihn zunächst mit ins Training nehmen, sie lacht, "da hat er uns voll einen Strich durch die Rechnung gemacht". Mittlerweile darf er mal zuschauen bei Krafteinheiten, mehr geht nicht, hat Obergföll festgestellt: "Ich schaue sonst die ganze Zeit nach ihm." Sie bringt Marlon meistens zum Babysitter, wenn sie länger unterwegs ist, wie in diesen Tagen in den USA, muss die Oma einspringen. Ihr Ehemann Boris kann nur selten aushelfen, er dient dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) als Bundestrainer. Obergföll sagt: "Wir müssen viel jonglieren."

Kinderglück quasi als Doping? Wenn man Obergföll zuhört, klingt das gar nicht abwegig

Nicht nur der Alltag verändert sich, auch der Wettkampf. Als Obergföll vor kurzem in Shanghai anreiste, beschlich sie ein "seltsames Gefühl. Man ist irgendwie in einer Beobachterrolle", sagte sie. Sie verglich sich nicht mit Konkurrentinnen, sondern mit anderen Müttern, mit Ennis-Hill. Obergföll glaubt, dass sie sich bald wieder aufs Wesentliche konzentrieren wird, "nach vier, fünf Wettkämpfen". Sie sagt aber auch: "Wenn es nicht klappt, dann ist es eben so. Dann muss man Konsequenzen ziehen. Durch den Kleinen und den WM-Sieg hat sich das Mentale schon verändert." Mit dem WM-Sieg von 2013 belohnte sich Obergföll damals nach Jahren des Zweifelns. Zuvor hatten schwächer eingeschätzte Kolleginnen ihr bei Großanlässen immer wieder den Sieg weggeschnappt. Seit dem Erfolg in Moskau weiß sie, dass auch sie mal Glück haben kann. Und mittlerweile hat sie festgestellt, dass das mit dem Glück sowieso eine Frage des Maßstabs ist.

Was darf man also von der neuen Obergföll einplanen? Sie sagt: "Man muss einfach sehen." Sie wäre nicht die erste Mutter, die nach einer Schwangerschaft stärker zurückkommt; Jo Pavey wurde sogar erst erfolgreich, als sie ihre Bestimmung als Mutter gefunden hatte. Kinderglück quasi als Doping? Wenn man Obergföll zuhört oder auch Jessica Ennis-Hill, wie sie in Götzis von den ersten Schritten ihres Sohnes Reggie berichtet, als hätte sie selbst gerade einen Wettkampf gewonnen, klingt das gar nicht abwegig. Obergföll wäre zunächst einmal mit 65 Metern zufrieden. Bessere Platzierungen wären auch nicht schlecht. Und wenn es nicht klappt, wird sie sich auch nicht verrückt machen.

© SZ vom 30.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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